1. Kapitel
Graces Hände legten sich so fest ums Lenkrad, dass ihre Knöchel schmerzten.
›Hey, Jupiter‹, formten ihre Lippen die Worte zum Song von Tori Amos, der aus dem Lautsprecher klang. »Denke, es ist klar, dass du fort bist.« Ihr Magen zog sich bei den Worten zusammen.
›Warum tust du dir das an?‹, ging es ihr bei den Klängen der Musik durch den Kopf. Sie fühlte sich schon elend genug, auch ohne den Song laufen zu lassen. Aber sie konnte nicht aufhören, über ihn nachzudenken. Über diesen … Dreckskerl, der sich aus der Beziehung abgeseilt hatte, nur weil sie ihm zu anstrengend geworden war.
Sie wusste genau, dass jede Träne seinetwegen vergeudet war. ›Loslassen können!‹ Sie verdrehte die Augen bei diesem Gedanken. Dazu war sie nicht gemacht. Nicht, wenn sie mitten aus ihrem Traum herausgerissen wurde.
Grace Porter blickte starr nach vorne. Links und rechts wurde die schmale Fahrbahn der Route 191 durch geschlossene Baumreihen flankiert. Obwohl sich am Himmel über ihr noch der rötliche Schimmer der untergehenden Sonne auf den dichter werdenden Wolkenbändern verfing, hüllte der Wald die Straße bereits in ein kaum zu durchdringendes Dämmerlicht. Grace musste notgedrungen die Scheinwerfer einschalten.
Vor gut zehn Minuten hatte sie Marchant passiert, die letzte größere Stadt des Countys hier im äußersten Nordosten von Maine. Sie hatte jetzt noch gut zwanzig Minuten Fahrt vor sich und so sehr sie sich auf die Abgeschiedenheit freute, so froh war sie, diese Wildnis hinter sich zu lassen.
›Dabei war die letzten Monate alles so gut gelaufen‹, haderte sie mit sich selbst. Sie hatte endlich den Schritt gewagt, ihren Bürojob aufzugeben, und ihren achtundzwanzigsten Geburtstag als Stichtag gesetzt, um sich als Autorin selbstständig zu machen. Ihre Romane verkauften sich so gut, dass Grace inzwischen sogar selbst an sich glaubte.
Ihr war aber von vornherein klar gewesen, dass sie am Ball bleiben musste. Weitere Romane schreiben musste, um sich einen Namen zu machen. Und das kostete Zeit. Zeit zu recherchieren, zu planen, zu schreiben und wieder und wieder zu überarbeiten.
Ihre Freundinnen hatten das verstanden, auch wenn sie ab und an gemault hatten, wenn Grace mal wieder ein Treffen absagte. Brian nicht. Er hatte keinen Ton gesagt. Die ganzen Monate über nicht. Sie waren auseinandergedriftet, hatten seltener Zeit miteinander verbracht, weniger telefoniert, bis er ihr letzte Woche per SMS mitteilte, dass er jemand anderen kennengelernt hätte. Und dass es ihm leidtäte.
Grace hatte es zwei Sekunden später um ihr Smartphone leidgetan, das sie gegen die Wand geschmettert hatte.
Sie warf einen Blick auf das Gerät, das in einer Halterung am Armaturenbrett befestigt war. Mit dem neuen kam sie noch längst nicht klar. Ging es nur ihr so oder wurden die Dinger immer komplizierter statt einfacher?
Ein Tropfen klatschte gegen die Windschutzscheibe. Und direkt danach ein weiterer.
»Na toll«, murmelte Grace. Auf Regen hätte sie jetzt gut verzichten können. Vor allem auf einer unbeleuchteten Landstraße. Selbst durch die geschlossenen Scheiben hörte sie im lauter werdenden Wind das zunehmende Rauschen der Bäume.
Grace beugte sich vor, so weit es ihr Sicherheitsgurt zuließ, und warf einen Blick nach oben. Der Himmel war nun vollkommen wolkenverhangen und verschmolz mit den schattenhaften Baumwipfeln. Blätter und kleine Äste flogen durch die Luft.
Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, stieß die Luft pfeifend aus und mahnte sich zur Ruhe. ›Einfach auf den Mittelstreifen konzentrieren‹, sagte sie sich. Sie war nachtblind und hoffte, dass ihr kein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkam, denn sie hatte keine Lust, jetzt im Handschuhfach nach ihrer Brille zu kramen.
Das Display ihres Smartphones leuchtete auf, ein vertrauter Klingelton folgte. Grace nahm die rechte Hand vom Lenkrad, um den Anruf mit einem Druck auf den Touchscreen anzunehmen.
»Hi, Trish«, begrüßte sie ihre Freundin.
»Hi, Süße«, kam die Antwort aus der Freisprecheinrichtung. »Wie geht’s dir?«
»Lausig«, erwiderte Grace. »Ich hab die ganze Fahrt über so viel geflennt, mir brennen schon die Augen. Und mir ist übel. Und es fängt an zu regnen.«
»Die Tränen lässt du jetzt mal schön sein. Das ist er echt nicht wert!«
»Meinst du, das weiß ich nicht?«, gab Grace zurück. »Traurig werde ich, wenn ich die falschen Songs anhöre. Nein, die meiste Zeit bin ich einfach nur wütend! Darauf, dass er sich abseilt, nur weil ich nicht mehr so schön in sein bequemes Leben passe. Dass er sich zu einer SMS aufraffen konnte, war ja für ihn schon eine Leistung!«
Der Seufzer aus dem Lautsprecher war unüberhörbar. »Ich sag da nichts dazu. Und du hältst das echt für eine gute Idee, dich jetzt abzusetzen und in diesem … Nest zu verkriechen? Wie bist du denn darauf gekommen? Dahinter kommen ja nur noch hohe Bäume und Kanada!«
»Cutler’s Rock heißt das Nest«, erklärte Grace und konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln um ihre Lippen stahl. »Und ruhig jetzt. Mir gefällt, was ich auf den Fotos gesehen habe. Das ist ein schnuckeliges Ferienhaus. Und ich verkriech mich nicht. Ich brauche gerade etwas Abstand. Von dieser ganzen Beziehung und … alleine schon, um meinen Roman fertigzustellen. Ich hab den schließlich für Ende Januar angekündigt!«
»Dein Ex hat schon genug Abstand von dir genommen. Und der Viscount wird’s sicher verkraften, wenn er seine Comtesse ein paar Wochen später abbekommt«, meinte Tricia Colbert trocken. »Du hättest nur einen Ton zu sagen brauchen und ich hätte mir ein paar Tage freigenommen. Abgabetermin für die Übersetzung, an der ich gerade sitze, ist sowieso erst nächste Woche. Wir hätten Boston unsicher machen und uns von Shop zu Bistro hangeln können. Ich wollte ohnehin noch ›Sandrine’s‹ ausprobieren, den Franzosen direkt an der Uni.«
»Machen wir, wenn ich zurück bin, versprochen!«, antwortete Grace und schüttelte belustigt den Kopf. »Bin froh, dass du da bist.«
Eine Windbö erfasst die Karosserie. Grace schnappte nach Luft und musste mit aller Kraft gegenlenken, um zu verhindern, dass der Wagen in den Seitengraben gedrückt wurde.
»Hör mal«, rief sie, »lass uns aufhören, Trish. Das Wetter wird hier gerade echt ungemütlich. Und ich möchte mich lieber auf die Straße konzentrieren.«
»Okay, du. Aber notfalls stell den Wagen ab und warte, bis es sich wieder beruhigt hat«, kam die Antwort. »Melde dich, wenn du da bist, ja?«
»Mach ich. Bye!« Grace stellte mit einem Seitenblick fest, dass ihre Freundin das Gespräch beendete und sich das Display des Smartphones verdunkelte.
Unvermittelt wurde der Regen heftiger. Innerhalb von Sekunden prasselten die Tropfen mit der Wucht von Hagelkörnern auf die Windschutzscheibe. Ohne dass sie es verhindern konnte, wuchs die Unruhe in Grace. Sie warf fortlaufend einen Blick aus dem Seitenfenster und versuchte in der Dunkelheit etwas auszumachen. Ab und zu glaubte sie, die schattenhaften Umrisse eines vereinzelten Anwesens an sich vorbeihuschen zu sehen. Doch die breiten Bahnen, in denen der Regen nun am Glas herablief, erschwerten ihr zunehmend die Sicht.
Grace trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie noch bis Cutler’s Rock brauchen würde. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht auch dreißig. Hier draußen gab es nicht einmal ein Diner, in dem sie den Regenschauer abwarten konnte.
›Regenschauer? Das entwickelt sich immer mehr zu einem ausgewachsenen Sturm!‹, stellte sie fest.
Sie zuckte zusammen und konnte den Aufschrei nicht unterdrücken. Schatten tanzten um ihren Wagen, begleitet von einem unheilvollen Klang. Zuerst dachte sie, es seien größere Äste gewesen, doch dafür wirbelten sie zu sehr durch die Luft. Etwas Schmales, Dunkles flog gegen die Frontscheibe und wurde nur einen Augenblick später vom Wind fortgewischt.
›Eine Feder?‹, fragte sie sich irritiert. Für ein Blatt war es viel zu schlank gewesen.
›Nur die Ruhe, Grace‹, forderte sie sich auf.
›Nur die …‹
Aus den Augenwinkeln sah sie den schlanken Schatten wie in Zeitlupe auf sich zufliegen. Sie drückte das Bremspedal durch und riss das Steuer herum. Das Heck des Wagens brach aus. Reifen quietschten. Grace wurde hart in den Sicherheitsgurt gepresst – und dann durchschlug der Schatten die Windschutzscheibe.
Glassplitter sirrten um sie herum. Grace schrie auf und riss die Arme hoch, um ihren Kopf zu schützen. Etwas schlug mit Wucht gegen ihren rechten Arm. Ein heiseres Krächzen schälte sich wie aus weiter Ferne zu ihr durch.
Das Fahrzeug drehte sich einmal um die eigene Achse und kippte dann plötzlich nach links.
›Der Straßengraben!‹, schoss es Grace durch den Kopf. Ihre linke Schulter prallte hart gegen die Fahrertür. Ohne sich noch abfangen zu können, schlug sie mit der Stirn gegen die Scheibe und knickte im Gurt ein. Sterne explodierten vor ihren Augen. Sie schmeckte Blut und musste husten. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihre Brust.
Der kleine Toyota rutschte über die Böschung.
›Nicht umstürzen!‹, klammerte sich Grace an dem Gedanken fest.
Ein Ruck ging durch das Fahrzeug.
Und dann herrschte Ruhe.
Selbst der Regen fiel nun gleichmäßig auf das Metall der Karosserie.
›Das klingt richtig beruhigend‹, stellte Grace fest. Sie merkte förmlich, wie sich alles von ihr entfernte, und zwang sich dazu, die Augen aufzureißen. Der einsetzende Schwindel war so heftig, dass sie einen Würgereflex unterdrücken musste. Ein heftiger Schmerz pochte in ihrem Schädel.
Sie bewegte sich in ihrem Sitz und sah nach vorne. Die Scheinwerfer erfassten Unterholz und dahinter den dunklen Umriss eines Baumstamms. Grace konnte ein Stück des Asphalts sehen sowie ein umgerissenes Schild mit einer schwarzen 191 auf weißem Grund.
Etwas schlug gegen ihre rechte Hüfte.
Sie drehte den Kopf ganz langsam in die Richtung und sah den schlanken Körper, der neben ihr auf dem Beifahrersitz inmitten von Splittern lag. Er zuckte noch einmal und lag dann still. Graces Augen weiteten sich, als sie inmitten der kleinen Scherben eine Krähe erkannte, deren Hals unnatürlich verrenkt war, und sie hielt sich die rechte Hand vor den Mund.
Ein glutrotes Auge betrachtete sie mit gebrochenem Blick.
»Mein Gott«, flüsterte sie und rückte so weit es ging von dem Kadaver weg. Durch ihre Daunenjacke spürte sie die Tür in ihrem Rücken. Die Kälte der Glasscheibe klärte ihre Gedanken ein wenig. Grace wagte kaum, an sich herabzusehen. Sie fürchtete sich davor, was sie entdecken würde.
In einem Reflex bewegte sie ihre Füße. Erleichtert stellte sie fest, dass sie ihre Zehen noch spürte.
Ihre auberginefarbene Bluse war über und über bedeckt mit Splittern des Sicherheitsglases. Sie konnte nach wie vor nicht fassen, dass die Windschutzscheibe dem Aufprall nicht standgehalten hatte.
Auch auf ihrem Schoß glitzerte es im Licht der Innenbeleuchtung. Grace betrachtete ihre Hände. Sie zitterten. Auf den Handrücken zeichneten sich oberflächliche Schnittwunden in roten Strichen ab. Keine von ihnen blutete heftig. Dennoch würden sie versorgt werden müssen.
Ihre linke Schläfe schmerzte zunehmend. Grace tastete nach der Stelle und zischte auf. Unter ihren Fingern konnte sie eine Schwellung ertasten. Sie sah sich ihre Fingerkuppen an und erkannte die roten Schlieren darauf.
Grace fluchte und hangelte nach dem Handschuhfach. Dabei zog sie ihren Bauch ein und achtete darauf, den toten Vogel nicht zu berühren. Ihre Finger schlossen sich um die Kleenex-Schachtel im Fach und zogen sie hervor. Sie zupfte ein Tuch heraus und hielt es sich gegen die Schläfe. Unter ihren Fingern pochte es. Grace besah sich das Papiertuch. Ein münzgroßer Blutfleck zeichnete sich darauf ab.
Durch die zersplitterte Windschutzscheibe fiel der Regen ins Wageninnere. Graces Jeans waren an den Oberschenkeln schon völlig durchnässt und klebten kalt auf ihrer Haut.
›Ich muss Hilfe holen‹, konnte sie endlich einen konkreten Gedanken fassen und blickte nach dem Smartphone. Es steckte nach wie vor in seiner Halterung. Sie drückte einen Finger auf das Display, das umgehend aufleuchtete.
Erleichtert lachte Grace auf. Dann allerdings warf sie einen Blick auf die Balken für die Empfangsleistung. Kein einziger der Striche leuchtete auf. Und darunter prangte in kleinen Buchstaben ›Kein Dienst verfügbar‹.
Grace zerdrückte einen Fluch auf den Lippen. Trotz der Anzeige rief sie die virtuelle Tastatur auf und drückte 9-1-1.
Das animierte Wahlzeichen blinkte auf und erlosch nach wenigen Augenblicken wieder. Sie wiederholte die Eingabe. Mit demselben Ergebnis. Sekundenlang starrte Grace auf das Display und wusste nicht, was sie machen sollte.
»Kein Netz«, akzeptierte sie schließlich die Erkenntnis. Vielleicht lag es am Wetter, das den Empfang beeinträchtigte. Oder an den Bäumen, die alles abschirmten. Es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Das Ergebnis blieb dasselbe.
Grace warf einen Blick nach draußen. Zu ihrer Rechten musste das Meer liegen, wenn sie die Straßenkarte vom Navi auf ihrem Smartphone noch richtig im Kopf hatte. Vielleicht ein paar Hundert Yards entfernt. Dort müsste sie klaren Empfang haben. Der Boden lief flach bis zur Küste aus.
Für ein paar Sekunden haderte sie mit sich. Alles in ihr weigerte sich, in dieser Dunkelheit in einer ihr vollkommen fremden Gegend mitten im Regen durch einen Wald zu laufen. Und sie war alles andere als in bester Verfassung. Doch ihr war klar, dass es die einzige Chance war, in dieser abgelegenen Gegend Hilfe zu rufen. Alleine konnte sie den festgefahrenen Wagen nicht freibekommen.
Grace nestelte mit klammen Fingern am Verschluss ihres Sicherheitsgurts. Er schnappte anstandslos auf.
»Na wenigstens«, kommentierte sie das Zurückschnappen des Gurtes und streckte sich. Ein Schmerz fuhr durch ihre Brust. Sie atmete ein paar Mal flach durch. Wenn sie zu tief Luft holte, schmerzte ihr Brustbein. Nicht mehr als eine Zerrung oder Prellung, hoffte Grace.
Sie öffnete die Fahrertür, die ein Stück weit nach außen aufschwang, bevor sie vom Unterholz abgefangen wurde. Grace schätzte die Öffnung ab. Sie würde sich herauszwängen müssen, aber es sollte gehen. Das linke Bein setzte sie aufs Trittbrett und stemmte sich dann aus dem Sitz. Glasscherben klirrten und fielen zu Boden. Grace legte die Hand an den Türrahmen und hielt inne.
›Taschenlampe!‹, machte sie sich klar und beugte sich nach rechts. Sie schaltete ihr Smartphone ein, um in dessen Lichtschein etwas erkennen zu können. Die Maglite lag ganz hinten, in der Tiefe des Handschuhfachs verborgen. Grace stieß ein paar Verwünschungen aus, ignorierte die Schmerzen bei dem Versuch, sich am Vogelkadaver vorbeizuhangeln, und schnaufte, als sie die Taschenlampe endlich an sich genommen hatte.
Grace schob sich ins Freie. Sie bewegte ihre Arme und Beine leicht und hoffte, damit alle Glassplitter abgeschüttelt zu haben.
Der nun leichte Regen legte sich wie eine kühlende Schicht auf ihre erhitzte Haut. Sie öffnete den Mund und sog die frische Luft ein. Eine Atemwolke bildete sich vor ihrem Mund.
Grace trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihren Toyota. Der Wagen lag halb auf der Seite, wies aber bis auf die zerstörte Windschutzscheibe keine sichtbaren Beschädigungen auf. Selbst auf der Motorhaube zeichneten sich nur wenige Dellen ab.
Sie presste die Lippen aufeinander. Sie hatte unglaubliches Glück gehabt, stellte sie fest.
Der Wind zerzauste ihr glattes, weizenblondes Haar, das sie mit zwei Spangen nach hinten gesteckt hatte. Zuerst versuchte sie noch, die einzelnen Strähnen zurückzuwischen, gab aber schließlich auf. Im Augenblick hatte sie andere Sorgen als eine tadellos sitzende Frisur.
Grace schaltete die Taschenlampe an. Die LED-Leuchte zerteilte mit einem hellen Lichtkegel die Dunkelheit und ließ gut erkennen, wie eng die hohen Baumstämme hier beieinander standen. Kein Wunder, dass sie den Empfang ihres Smartphones blockierten. Dafür gab es kaum Unterholz, das ihren Marsch erschweren würde.
Grace zog den Reißverschluss der Jacke bis ganz nach oben. Sie versteckte ihr Kinn hinter dem Kragenteil, das sich mit zwei Druckknöpfen schließen ließ.
Über die Schulter warf sie einen letzten Blick auf den Toyota und lief los.
Unter anderen Umständen hätte sie die Wanderung sogar genossen. Die Luft war durch den Regen frisch und klar, angereichert durch den würzigen Duft des Waldes. Ihre Schritte klangen mit einem satten Geräusch vom weichen Unterboden zu ihr hoch.
Durch die Baumkronen drang ein Lichtschimmer. Grace sah nach oben. Die Bäume standen nun so weit auseinander, dass sie einen Blick zum Himmel erhaschen konnte. Graue Wolkenbahnen hoben sich vor der Schwärze der Nacht ab. Sie wurden durch den Wind von der Küste landeinwärts getrieben.
Für einen Augenblick gaben die Wolken den Blick auf die schmale Mondsichel frei, die hoch über ihr stand. Vereinzelt blitzten die ersten Sterne zu ihr durch. Unwillkürlich lächelte Grace. Der Anblick gab ihr das Gefühl, nicht ganz alleine hier draußen zu sein.
In der linken Hand hielt sie ihr Smartphone. Immer wieder warf sie einen Blick auf das Display, in der Hoffnung, endlich Empfang zu haben. In der Ferne glaubte sie bereits das Rauschen des Meeres zu hören. Die Blätter der Bäume antworteten mit einem stärker werdenden Rascheln.
Grace warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie war in Upstate New York aufgewachsen und wusste, wie sie sich in der Natur orientieren konnte. Ein Busch, ein knorrig gewachsener Baum – das reichte ihr als Wegmarken, selbst in einer Gegend, die sie nicht kannte.
Sie drehte sich um und rieb sich über ihren schmerzenden Nacken. Hoffentlich hatte sie sich kein Schleudertrauma zugezogen. So wenig sie Krankenhäuser mochte – sie war froh, sobald sie irgendein Arzt gründlich durchgecheckt hatte.
Gerade als sie ihren Weg fortsetzen wollte, hörte sie das Rascheln. Nur für einen kurzen Augenblick. Dann war es verschwunden. Zuerst dachte sie, es sei von den Bäumen gekommen. Doch in diesem Moment wiederholte es sich. Und es kam aus der Dämmerung hinter ihr.
›Wie Schritte durch Laub‹, formte sich der Gedanke.
Grace leuchtete in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie ließ das Licht der Taschenlampe über das Unterholz wandern. Doch sie konnte nichts erkennen.
Grace blähte ihre Nasenflügel. Sie hatte keine Angst davor, hier von Wölfen oder Bären überrascht zu werden. Aus diesem Teil Maines waren sie schon lange vertrieben worden. Vielleicht war es ein Dachs oder ein Waschbär, der sich in einem Busch vor dem Sturm versteckt hatte. Sie versuchte sich mit diesem Gedanken zu beruhigen. Doch warum war er dann mit ihr zusammen stehen geblieben?
Grace konnte spüren, wie ihr Herz immer heftiger pochte. Ihr Blick huschte durch die Dunkelheit. Sie atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Sie beschrieb solche Szenen in ihren Romanen dutzendfach. Und ihre Heldinnen steckten die Angst schließlich auch weg. Irgendwie.
›Wenn Dad dich so sehen würde, würde er dir eine Standpauke halten‹, schalt sie sich.
Er war bis zu seiner Pensionierung Ranger gewesen und hatte Grace seit frühester Kindheit in die Natur mitgenommen. Nicht nur für Tagesausflüge, sondern auch für längere Touren, bei denen sie nicht mehr dabei hatten, als sie zum Überleben brauchten. Und er hatte darauf bestanden, ihr als Jugendliche den Umgang mit Schusswaffen beizubringen. Grace hatte es zwar nie übers Herz gebracht, auf ein Tier zu schießen. Aber Konservendosen waren vor ihr nicht sicher gewesen.
Hier draußen hätte sie jetzt ungestört ein paar Schießübungen auf die ganzen Fotos von Brian machen können, die er ihr immer wieder gerahmt und mit Widmung für ihren Schreibtisch geschenkt hatte …
Grace beschloss grimmig, den Gedanken im Hinterkopf zu behalten, bis sie wieder in Boston war. Der gefiel ihr.
Ihr Vater hatte es sich nicht ausreden lassen, ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten einen 32er-Colt zu schenken. Grace hätte sich auch über einen Wollpullover gefreut; im Augenblick aber bedauerte sie es, den Revolver nicht eingesteckt zu haben. Er lag gut verschlossen in einer Schublade im Wohnzimmerschrank.
Dort nutzte er ihr jetzt herzlich wenig.
Sie schürzte die Lippen, steckte das Smartphone weg und ballte ihre linke Hand zur Faust.
»Hören Sie«, klang ihre Stimme durch die Nacht. »Wer immer Sie sind, hören Sie mit dem Blödsinn auf. Ich mag es nicht, wenn mir einer nachsteigt.«
Nichts deutete darauf hin, dass jemand ihre Worte gehört hatte.
»Ich bin Grace Porter, eine bekannte Autorin. Wenn Sie es unbedingt darauf anlegen, sich Ärger mit der Polizei einzuhandeln, nur zu!«
›Ganz toll!‹, dachte sie bei sich. ›Als ob die sich für dich extra ins Zeug legen würde! Solche markigen Worte machen auch dem letzten Typ klar, dass du gerade bellst und nicht beißt.‹
Grace fühlte einen Kloß in ihrem Hals und schluckte ihn unter Schmerzen herunter. Sie wich ein paar Schritte zurück und erreichte eine kleine Lichtung. Das spärlich wachsende Gras leuchtete bleich im Mondlicht. Zahlreiche Tropfen schillerten wie flüssiges Silber auf den Aststümpfen eines umgestürzten, vermodernden Baumstamms, dessen Unterseite von Moos überwuchert war.
Wieder erklang das Rascheln, deutlich näher diesmal. Ein Zweig brach mit einem hellen Knacksen. Grace zuckte zusammen und blickte in die Richtung.
Ihre Augen weiteten sich, als sie den gewaltigen Schatten ausmachte, der sich zwischen den Bäumen hindurchschob. Die Stämme ächzten unter der Belastung, mit der sich die prankenhaften Hände gegen das Holz stützten.
Der Schatten hatte die Umrisse eines Menschen. Doch er musste sie um gut zwei Fuß an Größe überragen. Grace war alles andere als klein, dennoch musste sie nach oben blicken, um den Kopf im Dämmerlicht auszumachen.
Und dann trat die Gestalt auf die Lichtung. Graces Blick richtete sich wie gebannt auf die Augen, die sie aufmerksam musterten. ›Taxierten‹, berichtigte sie sich. Unwillkürlich schlang sie ihre Arme um die Schultern. Sie fröstelte und sie wusste tief in sich drin, dass es nicht vom Wind herrührte.
Ihr Verfolger war mit nicht mehr bekleidet als einer dunklen Tuchhose und einem offenen Hemd, unter dem sie das Muskelspiel seines Brustkorbs erkennen konnte.
Trotz der Kälte schien der Mann in seiner dünnen Kleidung nicht zu frieren. Er wirkte wie von einem inneren Feuer beseelt. Ein Feuer, das in den kohleschwarzen Augen mit ungezügelter Glut aufflammte. Grace schluckte trocken. Der Mann, der von seinem Äußeren her kaum älter als sie sein konnte, kam mit geschmeidigen Bewegungen auf sie zu. Ein siegessicheres und zugleich kaltes Lächeln umspielte seine Lippen. Das lange, dunkle Haar hing nass um seinen schmalen Kopf, der in seiner makellosen Schönheit fast schon aristokratische Züge aufwies.
Grace verwarf den Vergleich. Aristokratisch? Es war eindeutig, weshalb sie der Fremde verfolgt hatte. Alles in ihm war darauf aus, seine Beute zu stellen und seinen Spaß zu haben. Daran war nichts Edles.
»Verdammt, bleiben Sie mir von Leib!«, zischte sie ihn an und wich mit jedem Schritt, den er näher kam, zurück. Er war noch gut zwanzig Yards von ihr entfernt.
Grace suche nach einem Ausweg.
An Körperkraft war sie dem Mann hoffnungslos unterlegen. Da gab sie sich keinen Illusionen hin. Aber vielleicht konnte sie ihn in der Verfolgung abhängen. Auch wenn sie das Joggen vor Monaten aus Zeitgründen aufgegeben hatte, rechnete sie sich gute Chancen aus. Und zum Glück war sie so vernünftig gewesen, festes Schuhwerk für die Fahrt anzuziehen. Mit Pumps wäre sie nicht weit gekommen …
Das Rauschen des Meeres klang deutlich zu ihr durch. Sie konnte sogar das Klatschen der Brandung an die felsigen Klippen hören. Wenn sie es bis dorthin schaffte, konnte sie ihn vielleicht abschütteln. Er konnte sich mit seiner massigen Gestalt unmöglich so behände zwischen den Felsen bewegen wie sie.
Grace verwarf alle Überlegungen und rannte los. Sie ignorierte die Schmerzen in ihren Gliedern, hastete zwischen den Bäumen hindurch und wich den frei liegenden Wurzeln aus, die aus dem Boden ragten. Wenn sie stolperte und fiel, war sie verloren. Dieser Gedanke brannte sich in ihr fest. Alles in ihr konzentrierte sich auf den nächsten Schritt und auf den Mann, der von ihrer Flucht sichtlich überrascht worden war und ihr nun nachsetzte.
Die Bäume wichen nun endgültig zurück und gaben den Blick auf das Meer frei.
Keine zehn Yards trennten Grace von der Klippe, die schroff in die Tiefe abfiel. Weit unter sich hörte sie die Wellen klatschen. Ein harter Windstoß packte ihren Körper mitten im Lauf und riss sie fast zu Boden. Sie strauchelte und fing ihren Sturz mit der linken Hand ab, die sich in den nassen Boden grub.
Ein Schmerz durchzuckte ihr Handgelenk. Grace hätte am liebsten aufgeschrien und sich einfach in das glänzende Gras fallen lassen.
Weit vor sich am Horizont konnte sie die Lichter einiger Anwesen ausmachen. Die Häuser waren noch viel zu weit entfernt. Und die Brandung würde jeden ihrer Rufe übertönen. Ihr blieb nichts anderes übrig als weiterzuhasten.
Grace konnte nicht anders. Sie musste sich umdrehen und sehen, wie viel Abstand sie zwischen sich und ihren Verfolger gelegt hatte. Sie stieß einen Laut aus, der entfernt an ein Lachen erinnerte. Es war ihr tatsächlich gelungen, den Abstand zu verdoppeln!
›In die Felsen!‹, schrie alles in ihr.
Nur einen Augenblick später gefror das gequälte Lachen auf ihren Lippen. Sie glaubte ihren eigenen Augen nicht zu trauen. Mitten in der Bewegung zerflossen die Umrisse des Mannes förmlich und jagten einem zerrissenen Schatten gleich durch die Nacht, nur um sich wenige Yards hinter ihr wieder zusammenzufügen.
Ungläubig schüttelte Grace den Kopf und taumelte zurück. Sie merkte nicht, wie sie stolperte und zu Boden fiel. Ein Schmerz zog durch ihren linken Oberschenkel. Sie nahm ihn nicht wahr. Grace hatte das Gefühl, als würde sie sich aus ihrem eigenen Körper lösen und den gewaltigen Schatten, der sich über sie beugte, wie aus der Ferne beobachten.
Sie fühlte die Hand am Kragen ihrer Jacke – und dann sank sie zurück ins Gras.
Nein, sie sank nicht. Sie fiel. Grace schrie auf. Von einem Augenblick auf den anderen war das entrückte Gefühl verschwunden und die schmerzerfüllte Wirklichkeit hatte sie wieder.
Nur wenige Yards von ihr entfernt schlug etwas auf dem Boden auf. Grace keuchte. Sie konnte die Erschütterung unter sich spüren. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sich niemand mehr über sie beugte. Stattdessen klang ein wütendes Grollen über die Klippe.
Grace erwachte nun endgültig aus ihrer Benommenheit und sah auf. Ihr Verfolger lag am Boden, halb verdeckt von einem schlanken Schatten, der einem Raubtier gleich auf den Hünen zujagte.
Dieser war jedoch alles andere als geschlagen, sondern erhob sich in einer fließenden Bewegung. Nein, musste sich Grace berichtigen. Da war es schon wieder. Der massige Körper löste sich in seiner Form auf und glitt mehr, als dass er sich bewegte. Schattenhafte Formen zuckten um den Gegner des Hünen und fügten sich in dessen Rücken wieder zusammen. Für einen Moment glaubte sie, in der wabernden Gestalt gewaltige Schwingen auszumachen.
Grace wollte eine Warnung ausrufen und sah mit offen stehendem Mund, wie sich der andere Mann aus der drohenden Falle befreite – mit einer schnellen Bewegung, der ihr Auge kaum folgen konnte.
Seine Hand zuckte vor und schlug in den wuchtigen Leib, der sich noch nicht vollständig gesammelt hatte. Schattenfetzen wurden aus dem Körper gerissen und durch die Luft gewirbelt. Sie zersplitterten im Licht des Mondes wie nachtschwarze Kristalle.
Ungläubig sah Grace den dunklen Staub, der zu Boden rieselte.
Zum ersten Mal hörte sie ihren Verfolger aufschreien.
Der Hieb musste ihm unsägliche Schmerzen zugefügt haben. Seine rechte Pranke zuckte vor. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie seinen Gegner mit einem mächtigen Schlag niederstrecken.
Grace keuchte und hielt die Hand vor den Mund.
Wer immer der andere Fremde war – im Augenblick war er der Einzige, der zwischen ihr und ihrem Verfolger stand.
Der Hüne überragte auch ihn um mehr als einen Kopf. Doch das schien den Mann, der sich so schnell bewegte, dass sie ihn kaum erkennen konnte, nicht zu beeindrucken. Seine ganze Haltung strahlte eine Sicherheit und eine Überlegenheit aus, als könne er jeden Schritt seines Gegners im Voraus erahnen.
Der Hüne wich zurück. Fast schien es, als wolle er fliehen. Dann jedoch wirbelte er herum. Seine Formen zerflossen erneut und überwanden die Entfernung zu seinem Gegner mit der Leichtigkeit eines Windhauchs. Die schattenhafte Pranke schlug in den schlanken Körper und schleuderte ihn nach hinten. Er rutschte über den Boden. Gras spritzte zu beiden Seiten der zerfurchten Erde auf.
»Nein!«, entfuhr es Grace. Der Hüne, dessen Formen sich wieder schlossen, stockte in seiner Bewegung und blickte zu ihr herüber. Sie erschauderte. Das Feuer in den kohleschwarzen Augen war erloschen. Jegliche Leidenschaft in ihnen war einer Kälte ohne einen Hauch von Menschlichkeit gewichen.
Grace wusste, was ihr bevorstand, wenn ihr unbekannter Beschützer unterliegen sollte. Sie versuchte sich aufzurichten, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die beiden Männer zu bekommen. Doch ihre Beine versagten ihr den Dienst.
Sie stemmte sich ein weiteres Mal mit den Armen hoch und sank erneut auf den kalten Boden zurück. Unwillig schüttelte sie den Kopf und stieß einen Fluch aus. Eine lähmende Schwäche durchzog ihren Körper. Es war ihr unmöglich, aufzustehen. Sie konnte nichts anderes machen als abzuwarten, wer als Sieger aus diesem Zweikampf hervorging.
Ihr unbekannter Beschützer – Grace konnte nicht anders, als ihn so zu nennen, ohne zu wissen, wer er war oder warum er ihr half – hatte das Zögern des Hünen genutzt und war zur Seite gesprungen. Die Pranke, die ihn niederstrecken sollte, schlug in den Boden ein. Erdbrocken wirbelten empor. Knurrend setzte ihr Verfolger nach und schlug nach seinem Gegner, nur um ihn ein ums andere Mal zu verfehlen.
Grace konnte den schlanken Körper im Schatten der Bäume nicht mehr erkennen. Dann jedoch sah sie seine Gestalt. Sie war mit einem Satz emporgesprungen und schwebte für einen Augenblick weit über dem Hünen regungslos in der Luft.
Graces Lippen bewegten sich, als wollte sie das, was sie sah, in Worte fassen, die es nicht gab. Sie sah, wie der schlanke Körper von oben auf seinen Gegner herabstürzte und ihn mit aller Wucht zu Boden riss.
Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte sie, wie sich der Kopf ihres Beschützers über den entblößten Hals des Hünen beugte. Seine Hände drückten die muskulösen Pranken, die zu einer verzweifelten Gegenwehr ansetzten, nun mit nahezu spielerischer Leichtigkeit zu Boden. Ein lang gezogener Schrei löste sich aus der Kehle ihres Verfolgers. Er erstarb nach wenigen Sekunden, zusammen mit dem Körper, der in der Umklammerung des Fremden erschlaffte. Die schlanke Gestalt schien noch zu warten, als wolle sie sichergehen, dass ihr Gegner keine Gefahr mehr darstellte, bevor sie sich entspannte und aus ihrer kauernden Haltung erhob.
Im Mondlicht sah Grace, wie dunkelrote Bahnen vom Mund des Mannes herabliefen und ein bizarres Muster auf die bleiche Haut zeichneten.
Er wischte sich mit der Kuppe des rechten Daumens das Blut aus dem Mundwinkel und leckte es mit der Zunge ab. Dabei blieben seine Augen unverwandt auf Grace gerichtet, die ihm fassungslos zusah. Er musterte sie aufmerksam. Mit geradezu nonchalanter Lässigkeit hob er einen schweren, altertümlichen Mantel vom Boden auf, legte ihn um seine Schultern und ging auf sie zu.
»Nein!«, schrie sie auf. »Bleib weg! Verschwinde!« Sie riss abwehrend eine Hand hoch und versuchte, trotz der Schwäche in ihren Gliedern wegzukriechen. Der Fremde überwand die Entfernung zu ihr mit wenigen Schritten.
Grace biss die Zähne zusammen und verfluchte ihren Körper dafür, sie jetzt so im Stich zu lassen. Sie schlug nach dem Mann, der nun neben ihr in die Knie ging. Er drückte ihren Arm mühelos nach unten.
»Bitte«, entfuhr es ihr mit heiserer Stimme. »Nicht …«
Sie fühlte seine Hand auf ihrer Wange. Grace wagte nicht, sich zu bewegen. Behutsam strichen die Finger über ihre Haut.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte ihr der Fremde mit einer Stimme, die sie erbeben ließ. »Wir beschützen euch. Nach wie vor.«
Er presste seine Handfläche gegen ihre Stirn. Eine unaussprechliche Kälte ging von der Berührung aus. Grace fühlte mit einem Mal den Boden unter sich schwanken. Das Bild vor ihren Augen verzerrte sich, als sähe sie es aus immer größer werdender Entfernung.
»All das vergiss«, hörte sie seine Stimme wie ein Echo, das von den Klippen widerhallte. Sie schwoll an zu einem alles betäubenden Tosen.
Besinnungslos sackte Grace zu Boden.
2. Kapitel
»…önnen Sie mich verstehen?«
Grace verzog das Gesicht und gab einen maulenden Laut von sich. Stimmen strömten auf sie ein. Türen wurden zugeschlagen. Schritte hallten auf dem Boden.
»Ja, verdammt!«, entfuhr es ihr. »Ich kann Sie hören.« War das wirklich ihre Stimme, die sie gerade gehört hatte? Sie klang rau und brüchig.
Grace fühlte eine Hand auf ihrer Wange. ›Genauso kalt‹, ging es ihr durch den Kopf. Dann spürte sie, wie jemand ihre Augenlider öffnete. Ein greller Lichtschein blendete sie. Sie drehte den Kopf zur Seite, um dem Licht zu entkommen, und stöhnte.
»Pupillenreflex normal«, hörte sie eine kräftige Männerstimme.
Grace blinzelte und schlug die Augen auf. Sie blickte in das Gesicht eines Mannes mit graumeliertem, kurzgeschorenem Bart. Er trug einen weißen Kittel und verstaute eine Stablampe in seiner Brusttasche.
»Sie sind Arzt«, stellte sie fest.
»Richtig. Ihre kognitiven Fähigkeiten sind also auch noch intakt.« Er zwinkerte ihr zu.
»Bitte?«, fragte Grace nach. Sie sah sich um. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie auf einer Tragbahre lag. Über ihr erstreckte sich der dunkle Himmel, unterbrochen vom Lichtreflex der aufblitzenden Warnlichtanlage eines Ambulanzwagens.
»Schön zu sehen, dass Sie bei Bewusstsein sind. Ich bin Doktor Parsons.« Er trat an das Kopfende der Liege und beugte sich über seine Patientin. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte er.
Grace wusste im ersten Augenblick nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihr Körper fühlte sich miserabel, aber ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Sie konnte sich an alles erinnern. Auch an die Stimme, die ihr befahl, alles zu vergessen. Doch die Bilder in ihrem Kopf drängten mit aller Intensität auf sie ein. Sie wünschte fast, sie hätte alles vergessen.
Himmel noch mal, was hatte sie da mitangesehen?!
Und wer war der Mann, der sie gerettet hatte? Das Blut an seinem Mund. Fast wie ein … Grace schüttelte den Kopf und verbot sich, den Gedanken fortzuführen.
»Ich fühle mich, als hätte sich ein Grizzly über mich hergemacht«, antwortete sie dem Mediziner, der sie abwartend ansah.
»Na, ganz so schlimm ist es nicht. Auf den ersten Blick würde ich sagen, Sie haben ein paar Prellungen und Stauchungen erlitten. Und ein paar kleine Schnitte. Nichts Ernstes. Aber Genaueres kann ich erst sagen, nachdem wir Sie im Community Hospital in Marchant durchgecheckt haben.«
»Aber … wo bin ich?«, fragte Grace und stützte sich auf den linken Ellenbogen, um sich aufzurichten. Sie sah sich um, konnte ihren Toyota aber nirgendwo entdecken. Parsons drückte sie bedächtig, aber bestimmt zurück.
»Ihr Wagen liegt gut eine Meile von hier entfernt Richtung Cutler’s Rock. Was haben Sie so weit weg hier draußen gemacht?«, wollte er wissen.
»Eine Meile ?«, brach es aus ihr heraus. »Aber ich war doch …« Sie hielt inne und sah sich um. Über den Rand der Trage hinweg sah sie den Asphalt der Straße. Ihre Gedanken überschlugen sich. »Ich hatte einen Unfall. Und wollte Hilfe holen. Aber hier draußen gab’s kein Netz. Also wollte ich zur Küste, um Empfang zu haben.«
Der Mediziner nickte, um anzudeuten, dass er ihr folgen konnte. »Und dann?«
»Dann hat mich … etwas verfolgt. Und ich bin weggerannt. Und gestolpert. Und habe wohl das Bewusstsein verloren.« Grace überlegte sich die Geschichte, während sie sie erzählte. Sie war nicht bereit, irgendetwas von dem preiszugeben, was tatsächlich vorgefallen war.
Parsons nickte erneut.
»So haben wir Sie auch vorgefunden. Nur eines erstaunt mich.«
»Ja?«, fragte sie zögernd.
»Wer hat uns dann angerufen und mitgeteilt, wo wir Sie finden? Angerufen von Ihrem Smartphone. Das wird im Gesprächsverlauf auch so angezeigt.«
Grace konnte fühlen, wie ihre Wangen heiß wurden. Ein bleiches, fein geschnittenes Gesicht zeichnete sich vor ihrem inneren Auge ab.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie und vermied es, dem Mediziner in die Augen zu blicken.
»Nun gut«, antwortete dieser und klopfte ihr auf die Schulter. »Wir bringen Sie nach Marchant. Ich denke, was Ihnen im Augenblick am besten tut, ist ein langer, erholsamer Schlaf.«
Parsons winkte einen Sanitäter zu sich. Der junge Mann in einem rot-weißen Overall zwinkerte Grace zu und schob sie in den Fond des Rettungswagens. Unbeteiligt verfolgte sie, wie die Liege arretiert wurde und der Sanitäter die Hecktür schloss.
Schlaf? Sie fühlte sich eher, als sei sie noch lange nicht aus diesem Traum erwacht.