“Das Orion-Projekt: Todeszone” – Leseprobe

 

1.

Die Explosion hatte die Kuppel bis zum Sockel der Metallumfassung aufgerissen. Meterhoch war das Glas fortgesprengt worden, Stahlstreben ragten verkrümmt in die Höhe. Es war ein durchgehender Riss, gut zwei Meter breit.
Dabei schien die Detonation unmittelbar neben der Schleuse erfolgt zu sein, die den Durchgang zum ausgelagerten Gebäude bildete. Die Forschungseinrichtung selbst wirkte auf den ersten Blick unbeschädigt. In weitem Umfeld lagen Trümmerstücke verteilt, über und über bedeckt von Glasscherben. Noch immer hing Staub in der Luft, der sich nur langsam senkte und so die Sicht erschwerte.
Doch er hielt ihn auch verborgen, und das zählte für Michael Reed.
Immer wieder dachte er an die Kreatur zurück, die sich ohne Raumanzug in der tödlichen Atmosphäre des Mars wie selbstverständlich bewegt hatte.
Was für Wesen waren das?
Sie waren aus Fleisch und Blut, keine Androiden oder Cyborgs. So viel war sicher. Er hatte selbst mehrere von ihnen getötet. Doch wie mussten sie beschaffen sein, um in solchen Umweltbedingungen überleben zu können?
Er hastete weiter und hielt sich so gut er konnte im Schutz der Trümmer verborgen. In seinem Helm leuchtete unablässig ein Warnhinweis auf. Es hätte ihn nicht gebraucht. Sein Atem ging immer flacher. Die Sauerstoffanzeige stand nun bei unter fünf Minuten. Und das galt für den Ruhezustand. Jede Bewegung, erst recht unter diesen unbarmherzigen Bedingungen, bedeutete, dass die Reserve noch schneller aufgebraucht wurde.
Ihm blieb nicht einmal mehr die Zeit, die Kuppel zu erreichen …
»Einsatzleitung?«, versuchte er sein Glück. »Captain Imani, bitte melden.« Er hatte Kamal Bundajars Signal vorhin unterdrückt, aus Angst, die Kreatur könnte ihn durch die Schallwellen im Inneren seines Helms selbst in dieser nahezu luftleeren Atmosphäre ausmachen. Doch ihm blieb jetzt keine andere Wahl mehr. Falls er überhaupt gerettet werden konnte.
Eine Sekunde lang hörte er eine Antwort. Bruchteile von Silben, die wieder verschluckt wurden. Dann Stille.
Reed wiederholte seine Anfrage. Es knackte erneut, ein einziges Mal. Danach herrschte eine gespenstische Ruhe im Helmfunk. Nicht einmal statisches Rauschen war zu hören. Sein Körper versteifte sich. Dasselbe war auf der OMNI geschehen.
Aufmerksam sah er sich um und achtete auf jede Bewegung in seiner Umgebung. Auch wenn es eigentlich unmöglich war, beschlich ihn eine Ahnung, als seien es diese Wesen selbst, die die Funkverbindung störten oder sogar zum Erliegen brachten.
Er packte den Griff seiner MK-5 fester und stellte die Waffe auf Dauerfeuer. Vorsichtig ging er weiter. Er kam keine fünf Schritte weit, als er unweit vor sich etwas Dunkles im Staub liegen sah.
Reed zögerte einen Moment, dann jedoch erkannte er den Schulterpanzer einer Kampfausrüstung und ging langsam weiter. Der Marine bewegte sich nicht. Bereits in der kurzen Zeit war der Körper halb von einer Staubwehe bedeckt worden.
Reeds Atem ging immer flacher, und er wurde nur von einem Gedanken beherrscht. Die Rüstung enthielt Sauerstofftanks! So sehr es ihm widerstrebte, den Leichnam eines gefallenen Marines zu plündern, war das im Augenblick seine einzige Chance, das eigene Überleben zu sichern!
Er hastete die wenigen Meter über den Sand und ließ sich neben dem regungslosen Körper auf die Knie fallen. Sein Magen drehte sich bei dem Anblick um. Der Torso war auf Höhe der Hüften regelrecht durchtrennt worden. Eingeweide und das abgerissene Stück der Wirbelsäule ragten aus der Rüstung.
Er drehte den Toten auf den Rücken. Es war eine Frau. Ihr Helm war auf der linken Seite wie aufgeschnitten. Das Visier war weggesprengt und darunter konnte er ihr entstelltes Gesicht erkennen. Reed schloss für einen Moment die Augen und suchte dann nach dem Namensschild auf der Brust.
›Michalsky‹ war dort nur schwer entzifferbar zu lesen. Er legte den Daumen an einer bestimmten Stelle an das Schild und es löste sich mit einem Schnappen aus seiner magnetischen Halterung. Die Tote würde nach wie vor anhand des Chips im Anzug identifiziert werden können. Doch es war nach wie vor Brauch, ein ›Dog Tag‹ zur Hand zu haben, für den Fall, dass ein Kamerad nicht geborgen werden konnte.
Reed schloss seine Finger fest um das Metallstück und verstaute es in einer Gürteltasche.
Die Anzeige in seinem HUD blinkte nun immer schneller.
2 Prozent noch.
Er atmete so flach wie möglich und suchte nach der Lasche, mit der die Tanks unterhalb der Achseln abgedeckt wurden, und ließ den Riegel aufschnappen. Wie viel Atemluft ihr noch verblieben war, konnte er nicht sagen. Aber das würde er in wenigen Sekunden wissen …
Er löste die Lasche an seinem eigenen Anzug und warf die Kartusche zu Boden. In einer eingeübten Bewegung setzte er die neue ein und legte den Verschluss um.
»Komm schon …«, murmelte er und starrte wie gebannt auf die Anzeige im HUD. Die Sekunden krochen davon, bis endlich eine ›68 Prozent‹ in hellem Grün aufleuchtete.
Er atmete tief durch, und das nicht nur vor Erleichterung. Es tat gut, die frische Luft mit vollen Zügen einzuatmen.
Die zweite Kartusche!, rief er sich ins Gedächtnis und drehte den Torso auf die andere Seite.
Gerade als er die Lasche löste, verharrte er mitten in der Bewegung. Ihm war, als könne er regelrecht spüren, wie sich etwas seiner Position näherte. Vor seinem inneren Auge formte sich ein Bild. Als habe er sich selbst nicht mehr unter Kontrolle, wandte er wie ferngesteuert den Kopf nach rechts – und sah es hinter dem Fundament auftauchen.
Es war keiner der Kampfkolosse, die unter den Marines gewütet hatten. Es war viel feingliedriger, schlanker, und er hatte es schon einmal gesehen.
An Bord der OMNI!
Die Kreatur wandte ihm in diesem Augenblick den Kopf zu. Auch sie trug keinen Schutzanzug, sondern schien sich ebenso mühelos in der Marsatmosphäre bewegen zu können.
Ihr langgezogener Schädel war bedeckt von mehreren fleischigen Tentakel, die sich in einem fort bewegten. Das scheinbare Grinsen ihrer entblößten Zahnreihen schien beim Anblick von Michael Reed noch breiter zu werden.
Er griff nach seiner MK-5, riss sie hoch und legte auf die Kreatur an.

 

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