Das Orion-Projekt – Leseprobe

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1.

Elena Katsakis erstarrte mitten in der Bewegung.
Ihr Blick fuhr wild suchend umher und brannte sich förmlich in den schattenverdeckten Nischen des Wartungstunnels fest, der sich kreisförmig um die Mittelachse der Station zog. Sie rechnete jeden Augenblick damit, dass sich aus einer von ihnen der Tod löste und mitleidlos zuschlug. Und all ihre Anstrengungen, mit denen sie sich in den letzten Stunden vor ihm versteckte, vergeblich gewesen waren. Ihre Beine gaben nach. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich gegen die Ermattung zu stemmen und sackte an der kalten Bordwand zu Boden.
Jetzt war es wieder zu hören. Wenn auch weit entfernt. So weit entfernt, dass sie erleichtert aufatmete. Es galt nicht ihr. Nicht dieses Mal.
Sie schämte sich für den Gedanken und presste die Lippen aufeinander.
Ein entferntes Echo drang zu ihr durch. Das hässliche Kreischen von Metall, das wie Papier aufgeschlitzt wurde. Dann ein weiteres Geräusch. Elena presste die Handflächen gegen die Ohren und schüttelte den Kopf. Sie hatte es zu oft gehört in den letzten Stunden und hoffte, dass es schnell vorbei sein möge.
Der Schrei eines Menschen, der einen grauenvollen Tod starb.
Er verstummte so schnell, dass sie nur allzu gerne geglaubt hätte, sich getäuscht zu haben. Doch Elena hatte gesehen, was mit den Menschen geschah. Und sie hatte miterlebt, wie schnell ein Leben ausgelöscht wurde.
Sie gehen jetzt Deck für Deck durch. Und sie werden dich finden!, hämmerte der Gedanke auf sie ein.
Sie lauschte – und hielt den Atem an.
Wie um ihren Gedanken zu bestätigen, konnte sie durch das geschlossene Schott das unablässige Kreischen auf den metallenen Bodenplatten hören, das beständig lauter wurde. Unerbittlich näherte es sich ihrem Standort. Ihr Körper verkrampfte sich. Sie wusste nur allzu gut, was dort draußen auf sie lauerte, nach Beute suchte. In ihr formte sich das Bild von Krallen, die eine Titanlegierung von fünf Zentimetern mühelos durchdrangen.
Die junge Mechatronikerin grub ihre Zähne so fest in die Unterlippe, bis sie ihr eigenes Blut schmeckte. Der bittere Geschmack half ihr, sich aus ihrer Starre zu lösen und tiefer in den Tunnel zurückzuziehen. Hier gab es in regelmäßigen Abständen versteckte Blenden zu den Wartungsschächten, die die einzelnen Decks der Raumstation durchzogen.
Das kurze Haar klebte auf ihrer Stirn. Trotz der Hitze in dem engen Tunnel fröstelte sie. Der durchgeschwitzte Kragen ihres dunkelblauen Overalls legte sich wie eine Klammer um ihren Hals und schnürte ihr förmlich die Luft ab. Sie riss den Klettverschluss mit einer hastigen Bewegung auf und rang nach Atem.
Elena war wie alle Mitglieder dieser Besatzung ausgebildet worden, um Stresssituationen zu bewältigen. Der Einsatz im Weltraum war gerade bei diesem Projekt mit einem hohen Risiko verbunden. Das war ihr stets bewusst gewesen. Doch auf das, was die letzten Stunden an Bord geschehen war, konnte niemand vorbereitet werden.
Minutenlang wechselte das kreischende Geräusch vor dem Schott, das den Tunnel vom zentralen Verbindungsschacht trennte, von einer Seite zur anderen, bis es sich schließlich entfernte und nicht mehr zu hören war.
Mühsam unterdrückte Elena den Impuls, ihrer Verzweiflung freien Lauf zu lassen. Ihre Lippen zuckten. Sie wischte sich über den Mund und betrachtete das Blut, das eine rote Spur auf ihren Handrücken zeichnete. Wiederholt atmete sie tief durch, um ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie vor einer Innenwand stehen blieb und die Arretierung für die Blende löste. Mit geübten Griffen packte sie das gebogene Metallstück und legte es so vorsichtig wie sie konnte auf den Boden, um keinen Lärm zu verursachen.
Die schmale Wartungskammer, die dahinter lag, bot kaum mehr als einem einzelnen Menschen Platz. Sie wurde von einem grellblauen Licht erfüllt, das den bioneuralen Schaltkreisen, die das Nervensystem der Raumstation bildeten, als Energiequelle diente und so eingestellt war, dass es auch auf Menschen eine belebende Wirkung hatte. Im Augenblick wirkte es auf die Mechatronikerin nur kalt und seelenlos.
Elena Katsakis war Mitglied des Wartungsteams dieser Station, der OMNI. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Funktionsroutinen der Schaltkreise zu überwachen und die effizienten, aber äußerst anfälligen Bauelemente fortlaufend in Stand zu halten. Und das beim waghalsigsten Unternehmen, das die bemannte Raumfahrt der Erde jemals unternommen hatte – den überlichtschnellen Sprung zu einem erdähnlichen Planeten in einem anderen Sonnensystem.
2072 hatten die beiden Astrophysiker Charles Brodkin und Debra Chandelier das ›Paraversum‹ entdeckt, eine Schicht zwischen den Dimensionen, die eine Fortbewegung schneller als das Licht ermöglichte, ohne dass ein Raumschiff auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen musste, um in diesen ›Überraum‹ vorzustoßen.
Auch wenn es noch Jahrzehnte und zahllose Versuche bedurft hatte, um aus den theoretischen Überlegungen einen ersten funktionstüchtigen Antrieb zu entwickeln, hatten sie mit ihrer Entdeckung ein neues Zeitalter in der bemannten Raumfahrt eingeleitet.
Bisher war es jedoch gerade einmal gelungen, auf ›der Welle mitzusurfen‹, wie es flapsig genannt wurde. Raumschiffe mit Tekkan-Antrieb auf Basis eines Ionentriebwerks waren seit 2182 auf großen Militär- und Frachtraumschiffen im Einsatz. Mit ihnen war es überhaupt erst möglich gewesen, den ›paraversalen Schub‹ auszunutzen, die Überlagerungszone des Überraums in das Raum-Zeit-Kontinuum.
Die Beschleunigung, die durch orbitale Railgun-Abschussrampen erreicht werden konnte, ermöglichte eine maximale Geschwindigkeit von bis dahin für unmöglich gehaltenen 1,5 Prozent Lichtgeschwindigkeit. Das erlaubte es, die Strecke zwischen den Planeten in Tagen anstatt wie früher in Monaten zurückzulegen.
Allerdings hatte diese Technologie ihre Grenzen. Es war nach wie vor utopisch, damit in ein benachbartes Sonnensystem vorzustoßen. Zudem musste die Crew die Reise wegen der auftretenden Gravitationsverzerrungen in Flüssigtanks im künstlichen Tiefschlaf verbringen. Sollte während des Flugs etwas Unvorhergesehenes passieren, dauerte es Stunden, bis die Mannschaft von der Bordelektronik reanimiert werden konnte und einsatzfähig war.
Dennoch war erst durch diesen Antrieb eine intensive Besiedlung des Mars oder der Monde von Jupiter und Saturn möglich geworden, auch wenn es häufig nicht mehr waren als kleine Kolonien, die von unabhängigen Unternehmen betrieben wurden, um Rohstoffe abzubauen.
Doch für viele Menschen war ein Job in einem Bergwerk auf Titan erstrebenswerter als ein klassenloses Leben ohne rechtliche Ansprüche auf der Erde. Wer keine geregelte Arbeit nachweisen konnte, hatte seine Bürgerrechte weitgehend verwirkt und wurde vom Staat gerade noch mit dem Nötigsten versorgt.
Zumindest in den Staaten, die heute noch über eine funktionierende Regierung verfügten …
Für weitere Sprünge zu den nächsten Sternen wären allerdings solch große Energiemengen nötig, wie sie kein Raumschiff mit sich führen konnte. Und so war diese Technologie bis heute ausschließlich auf das Sonnensystem beschränkt.
Elena konnte sich noch an den Stolz und die Erleichterung erinnern, unter zahllosen Kandidaten aus allen Nationen der UAC, der ›United American Confederation‹, für dieses Projekt ausgewählt worden zu sein, mit dem nun diese letzte Barriere endlich durchbrochen werden sollte. Dabei hatte sie erst vor Kurzem an der Canadian Michigan University ihren Abschluss gemacht.
Schlimmer als die Aufnahmetests, vor allem die der körperlichen Belastung, war der Widerstand in ihrer eigenen Familie gewesen. Mit ihrer Begeisterung für den Weltraum hatte sie bei ihren bodenständig veranlagten Eltern schon immer alleine dagestanden. Und das, obwohl sie kaum genug verdienten, um Monat für Monat über die Runden zu kommen.
Sie hatte förmlich aufgeatmet, als endlich der Termin für die Vorbereitungen im Trainingscenter auf dem Mars bekannt gegeben worden war. Weit entfernt von dem sorgenvollen Blick und den Anrufen ihrer Mutter, hatte sie sich endlich befreit von den erdrückenden Sorgen auf der Erde gefühlt.
Doch jetzt wünschte sie sich nichts mehr, als bei ihr zu sein.
Elena schlang die Arme um den Oberkörper. Sie wusste nicht mehr, seit wie vielen Stunden sie schon auf der Flucht war, sich wieder und wieder aufs Neue versteckte und um ihr Leben fürchtete.
Einen neuen erdähnlichen Planeten zu besiedeln und ein neues Leben zu beginnen … – im Augenblick drehten sich ihre Gedanken nur darum, wie sie überleben konnte. Dabei verstand sie bis jetzt nicht einmal, was überhaupt geschehen war …

 

Stunden zuvor

Die OMNI war mit ihrer Länge von über dreihundert Metern eine der größten Raumstationen, über die die CSA verfügte. Und dennoch wirkte sie winzig im Vergleich zu dem kreisförmigen Objekt, das sich nur wenige Kilometer von ihr entfernt vor dem Sternenhimmel abzeichnete.
Das Massekatapult bestand trotz seines Durchmessers von einem Kilometer aus kaum mehr als dünnen Platten, die durch Kabel miteinander verbunden waren. In regelmäßigen Abständen war die Konstruktion durch Stabilisatoren verstärkt, in die Parabolspiegel eingearbeitet worden waren. In deren Brennpunkt bündelte sich die Energie, um das Katapult mit Energie zu versorgen.
Energie, um die ORION, das ellipsoide Raumschiff, das im Schatten der Station nur an seinen Positionslichtern auszumachen war, knapp fünfhundert Lichtjahre durch das Weltall zu katapultieren.
Das Ziel der ORION war Kepler-186f. Ein erdähnlicher Planet, der eine Hoffnung erfüllen sollte, die Millionen Menschen antrieb – zu einer zweiten Heimat für die Menschheit zu werden.
Seit Mitte des 21. Jahrhundert waren weite Gebiete auf der Erde durch Klimaverschiebungen unbewohnbar geworden. Es kam zu Ernteausfällen und einer Absenkung des Grundwasserspiegels, der Millionen von Hungertoten gefordert hatte. Die, die überlebt hatten, machten sich auf den verzweifelten Weg in die bewohnbaren Regionen, um die letzte Chance zu ergreifen, weiterzuleben.
Doch die Hilfsbereitschaft hatte sich schnell in kompromisslose Abschottung gewandelt, als auch die verschonten Regionen nicht mehr in der Lage waren, ihre eigene Bevölkerung ausreichend zu versorgen.
Es war zu jahrzehntelangen bewaffneten Konflikten gekommen, die selbst zahlreiche Opfer gefordert hatten. Die bestehende Ordnung war in weiten Teilen der Welt zusammengebrochen, und die Staaten, die die Krisen überdauert hatten, hatten sich darauf verständigt, die Welt unter der ›Survival first‹-Doktrin in Territorien aufzuteilen. Es zählte das eigene Überleben. Mitgefühl war ein Rohstoff, den sich nur noch die reichsten Staaten leisten konnten.
Und auch ihnen war klar, dass die Menschheit ein neues Ziel brauchte. Alleine schon, um eine Perspektive zu haben, auf die sie hinarbeiten konnte. Und dieses Ziel musste eine neue Erde sein. Eine, die für Milliarden von Menschen eine Zukunft bedeutete.
Seit Wochen wartete die Besatzung der ORION unter der Leitung von Professor Okuda Takeshida auf die Startfreigabe von Mission Control in Houston. Wieder und wieder hatte die Leitstelle in der Marsstation virtuelle Testläufe angesetzt, um etwaige Schwachstellen im Massekatapult zu finden und den Austritt der ORION auf den Kilometer genau zu berechnen.
Die Reaktoren der OMNI hatten einzig und allein die Aufgabe, das Katapult mit der nötigen Energie zu versorgen, um der ORION den Sprung zu ermöglichen. Das Raumschiff hatte das Material an Bord, um im Orbit von Kepler-186f ein zweites Katapult aufzubauen und genügend Energie für einen Rücksprung.
Stand diese Verbindung einmal, konnten in Zukunft weitere Raumschiffe die Distanz zwischen den beiden Sonnensystemen mühelos überbrücken, und einer Besiedlung des Planeten stand nichts mehr im Weg.
Doch all das war bisher nur Theorie. Niemand konnte wirklich sagen, was die ORION auf Kepler-186f tatsächlich erwartete.
Mit einem Tekkan-Antrieb wäre es unmöglich gewesen, den Sprung zu schaffen. Die ORION hingegen verfügte bei ihrem Testflug über den ersten funktionstüchtigen Kaiden-Antrieb, der eine Beschleunigung ermöglichte, die jenseits der Grenzen des Einsteinschen Universums lagen. Zudem erlaubte erst dieser Antrieb der gesamten Besatzung, bei Bewusstsein zu bleiben, um jederzeit eingreifen zu können, sollte es zu einem Störfall kommen. Gerade beim Wiedereintritt konnte jede Sekunde über Leben und Tod entscheiden.
Jeder der zwanzig Männer und Frauen an Bord der ORION war sich bewusst, auf welch Wagnis sie sich einließen. Keiner von ihnen konnte sich wirklich vorstellen, was sie erwartete. Noch niemals zuvor waren Menschen in ein fremdes Sonnensystem vorgestoßen.
Dann, am 26. Oktober dieses Jahres 2218, hatte die Besatzung endlich grünes Licht erhalten.
Elena hielt sich wie alle Mitglieder der Besatzung an Bord der OMNI, die nicht direkt an den Startvorbereitungen beteiligt waren, für den Fall eines unverhofften Ereignisses auf Abruf in ihrer Koje bereit. Wie gebannt starrte sie auf den Monitor an der gegenüberliegenden Wand ihrer engen Schlafkammer und verfolgte die Geschehnisse auf der Kommandobrücke wie auch am Massekatapult.
Bereits seit zwei Stunden wurden die Parabolspiegel mit Energie versorgt. Elektrische Impulse sorgten dafür, dass der Rand des kreisförmigen Gebildes unwirklich in der Dunkelheit des Alls aufleuchtete. Inmitten des Kreises hatte sich ein flirrendes Energiefeld aufgebaut.
Der Countdown wurde von einem Techniker heruntergezählt.
Die ersten Momente waren dann viel unspektakulärer verlaufen, als Elena es erwartet hatte.
Als Okuda Takeshida sich über die Monitore an die Besatzung sowohl der ORION wie der OMNI richtete und den Sprung in das ›Paraversum‹ einleitete, sah es nicht anders aus als bei einem Start mit Tekkan-Antrieb. Das Raumschiff wurde förmlich vom Katapult ›angesaugt‹ und scheinbar in die Länge gedehnt, bis es von einer Sekunde auf die andere verschwunden war.
Danach erlosch das Energiefeld im Katapult. Nichts erinnerte mehr daran, dass sich vor wenigen Augenblicken hier noch ein Raumschiff befunden hatte.
Selbst unter Wissenschaftlern gab es zahlreiche Vertreter, die dem Jungfernflug der ORION mit Misstrauen oder Unbehagen entgegensahen. Nicht wenige von ihnen befürchteten, mit dem Kaiden-Antrieb stieße man in physikalische Bereiche vor, die man nicht mehr kontrollieren könne.
In der ersten Phase schien jedoch alles planmäßig zu verlaufen. Es wurden keine Ausfälle oder Schäden gemeldet, und auf dem Monitor konnte man die entspannte Atmosphäre auf dem Kommandodeck hautnah miterleben.
Die Sprungdauer nach Kepler-186f war mit knapp zwei Minuten berechnet worden. Selbst die paraversalen Morseimpulse, mit denen Nachrichten übermittelt wurden, würden also mindestens vier Minuten benötigen, bevor sie von der OMNI aufgefangen werden konnten.
Elena sah müßig auf den Bildschirm. Sie musste zugeben, sie war ein wenig enttäuscht, wie unspektakulär diese Sternstunde der Raumfahrt verlaufen war. Es waren noch vier Stunden, bevor ihre Schicht begann. Und die bestand aus nicht mehr als routinemäßigen Kontrollen.
Sie zuckte mit den Schultern und lehnte sich in ihrer Koje gegen die Wand. Vielleicht fiel ihr noch ein, womit sie die Zeit totschlagen konnte.
Ohne Vorwarnung geriet die Station ins Trudeln.
Die Streben der Raumstation ächzten bedenklich in ihrer Konstruktion. In ihrer Kabine schrillte die Alarmsirene auf. Elena riss geistesgegenwärtig die Hände über den Kopf, um sich vor den umherfliegenden Gegenständen zu schützen. Sie erhielt einen schmerzhaften Schlag gegen den Unterarm und sah die Essschale, die scheppernd zu Boden ging. Sie krallte die Finger in das Rahmengestell ihrer Koje und konnte nur abwarten, bis sich die Trudelbewegungen endlich legten. Ihr Magen rebellierte, und sie musste mehrmals würgen, um sich nicht zu übergeben.
Die Stimme des Chefingenieurs im Bordfunk ließ sie zusammenzucken. Er erklärte mit knappen Worten, dass die unverhoffte Beanspruchung zahlreiche Anlagen überlastet hatte. Alle Wartungsteams sollten sich umgehend auf ihren Stationen melden. Dann gab er durch, welche Decks durch Schäden am schlimmsten betroffen waren und forderte jeden, der nicht unmittelbar mit Reparaturaufgaben betraut war, dazu auf, verletzten Besatzungsmitgliedern zu helfen.
Elena schwang sich aus ihrer Koje. Ihr Magen hatte sich noch immer nicht beruhigt. Erst knapp über dem Bodengitter setzte die künstliche Schwerkraft ein.
Sie riss die Tür auf und sah, wie andere Mitglieder der OMNI bereits zu ihren Stationen eilten. Ohne weitere Zeit zu verlieren, schloss sie sich ihnen an. Es ging darum, die Schäden so schnell wie möglich zu beheben. Fast alle auf ihrem Deck waren Angehörige der technischen Wartung und eilten in das Magazin, um sich so viele Reparaturpacks zu schnappen, wie jeder von ihnen tragen konnte.
Auf ihrem Weg in den Sektor, den sie zu betreuen hatte, konnte sie erst sehen, wie stark die Station beschädigt worden war. Elena schnaufte. Es grenzte an ein Wunder, dass es zu keinem massiven Hüllenbruch gekommen war. Wandblenden waren aus ihren Verankerungen gesprengt worden, Kabelsätze hingen wirr in der Luft, die erfüllt war von einem schwachen, beißenden Gestank nach verschmorten Schaltkreisen.
Gerade, als sie damit begann, eines der überlasteten Steuerelemente auszutauschen, setzte das Kreischen ein. Es kam aus einer Richtung, aus der es eigentlich nicht kommen konnte – von der Außenhülle der Station …
Verwirrt hatte sie in ihrer Arbeit innegehalten und war auf einen Korridor getreten, der das Deck wie einen Ring umgab und zu den einzelnen Sektoren führte. Sie war alleine in ihrem Abschnitt gewesen. Die Besatzung verteilte sich weitläufig auf der mehr als dreihundert Meter langen, spindelförmigen Raumstation.
Die Geräusche klangen wie Messer, die über einen Porzellanteller gezogen wurden. Sie folgten in Intervallen, setzten kurz an und hörten wieder auf.
Das Aufheulen der Sirenen ließ Elena Katsakis zusammenzucken. Rote Leuchten blinkten in gleichmäßigen Abständen an der Decke auf, begleitet von der monotonen Meldung einer Computerstimme.
»Hüllenbruch auf Deck 9. Bitte begeben Sie sich zur nächsten Sammelstelle.«
Diese Meldung wurde ständig wiederholt und mischte sich wie ein gleichförmiger Singsang unter den Klang der Alarmsirenen.
Hüllenbruch? Konnte die Station der Belastung nun doch nicht mehr standhalten? Elena war machtlos gegen die in ihr aufsteigende Unruhe und rieb sich die verschwitzten Handflächen am Overall ab.
Sie hatte während ihres Studiums mehrere Praktikums-Einsätze auf Raumstationen absolviert. Doch jeder von ihnen hatte im erdnahen oder im lunaren Orbit stattgefunden. Keiner davon hatte sie jemals in die Tiefe des Sonnensystems geführt. Bei einem Zwischenfall wären Einheiten des SARC, des Search and Rescue Corps, in kürzester Zeit vor Ort gewesen. Doch hier draußen waren sie im Augenblick völlig auf sich alleine gestellt. Es konnten Tage vergehen, bevor ein Rettungsteam sie erreichte.
Wenn sich das Leck nicht schließen ließ … Energisch schüttelte die UAC-Kanadierin ihren Kopf und konzentrierte sich darauf, wie befohlen den nächsten Sammelpunkt zu erreichen, der über ein geschlossenes Druckkammersystem verfügte.
Ihr Pulsschlag stieg durch die Anspannung sprunghaft an. Das waren die Nebenwirkungen der Medikamente, deren Aufgabe es war, die radioaktiv geladenen Isotope in ihrem Blut in ständiger Bewegung zu halten.
Die OMNI war mit einem magnetischen Dämpfungsfeld ausgestattet, das eine künstliche Schwerkraft erzeugte, die nahezu der auf der Erde entsprach. Allerdings musste jeder, der sich nicht mit Magnetsohlen auf den Decks aufhalten wollte, in Kauf nehmen, dass sein Blut mit Isotopen angereichert wurde, die ihn in dieses Schwerefeld einbanden. Da sich die schweren Teilchen im Blut an der Stelle ablagern würden, die zum Gravitationsmittelpunkt wies, mussten sie durch einen erhöhten Blutdurchfluss im gesamten Körper verteilt werden.
Elena hatte sich die Unterlagen über die ›kalkulierbaren Risiken‹ dieses Verfahrens bewusst nie durchgesehen. Sie lasen sich schlimmer als die Aufzählung von Nebenwirkungen jedes herkömmlichen Medikaments. Es gab dokumentierte Fälle von Thrombosen, inneren Blutungen oder Schlaganfällen, weshalb der Dienst auf Schiffen oder Stationen mit künstlichem Schwerefeld auf drei Monate begrenzt war. Danach sahen die Protokolle der CSA, der Confederated Space Administration, eine Reha-Behandlung von drei weiteren Monaten vor, in der sich die radioaktiven Rückstände wieder abbauen sollten.
Elena hatte inzwischen den Zentralkorridor erreicht. Sie begegnete mehreren Besatzungsmitgliedern, die auf demselben Deck wie sie Dienst hatten. Dennoch kannte sie die meisten nur vom Sehen her. Oftmals blieben die einzelnen Abteilungen den ganzen Flug über unter sich. Für die offiziell angesetzten ›gemeinsamen Abende‹ zur Teambildung hatte sie schon während der Testläufe meist keine Kraft mehr gehabt und sich nach ihrer Schicht todmüde in ihre Kabine zurückgezogen.
»Elena, hey!«, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken, als sie das Schott zu dem Raum passierte, der als Sammelpunkt ausgewiesen war. Er lag auf jedem Deck um die Hauptachse der Station angeordnet und verfügte über verstärkte Wände aus einer Titan-Vanadium-Legierung.
Sie drehte den Kopf zur Seite und blickte in ein bekanntes Gesicht. Melvin Chong gehörte zur selben Wartungseinheit wie sie, allerdings zu einer anderen Schicht, sodass sie kaum mehr Zeit als für ein kurzes ›Hallo‹ und ›Wie geht’s?‹ bei einer Begegnung im Gang oder in der Messe hatten.
Der dunkelblaue Overall hing etwas weit an dem dürren Körper des Mannes mit den schwarzen Haaren, die so geschnitten worden waren, als hätte man ihm einfach einen Topf aufgesetzt. Sein Aufgabenbereich waren die Energieleitungen der Hauptdecks. Elena war überrascht, ihn hier zu sehen.
»Was machst du noch hier? Sollest du nicht auf der ›Chefetage‹ sein?«, fragte sie.
»Ich war gerade auf dem Weg dorthin«, verteidigte sich der Koreaner, der in ihrem Alter sein mochte, und hob abwehrend die Hände. »Ich hatte noch ein paar dringende Reparaturen hier unten zu erledigen, und …«
Er kam nicht mehr dazu, seine Ausführungen zu beenden. Ein heftiger Schlag erschütterte die Station. Wie in Zeitlupe neigte sich das Deck zu einer Seite. Die beanspruchten Metallstreben antworteten mit einem lang gezogenen Stöhnen. Manche der Menschen, die sich mit ihnen in dem Raum befanden, verloren ihren Halt, stolperten und rutschten über den Boden. Schreie erfüllten den Raum, der etwas mehr als zehn Meter durchmaß.
»Hüllenbruch auf Deck 10«, kommentierte die Computerstimme das Geschehen nüchtern. »Lokaler Ausfall des Eindämmungsfeldes.«
Elena atmete hastig und hielt sich an der Reling fest, die die kreisrunde Wand entlang angebracht war. Sie spürte, wie das Blut in ihrem Schädel pochte. Nur nicht durchdrehen, rief sie sich selbst zur Ruhe.
»Mann, Scheiße!«, übertönte Chongs Stimme die Unruhe der anderen Anwesenden. Er hatte seinen Sturz nicht abfangen können und presste die Hand auf sein rechtes Knie. Der blaue Stoff war an einer Stelle aufgerissen und färbte sich binnen Sekunden tiefrot.
»Schlimm?«, fragte Elena ihren Kollegen.
»Blöde Frage!«, herrschte er sie an und verzog die Lippen. Er humpelte zu der Reling und stützte sich mit dem Ellenbogen auf dem metallenen Gestänge ab. Das Deck richtete sich langsam wieder in einer horizontalen Lage aus.
»Ah, wenigstens«, stieß Chong gepresst hervor. »Verdammt, was ist da geschehen? Wüsste ich es nicht besser, würde ich sage, wir werden angegriffen!«
Irritiert sah Elena ihn an. Sie warf einen Blick in die Runde, um zu sehen, ob jemand außer ihr diese Bemerkung gehört hatte. Doch alle anderen schienen viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt zu sein.
»Aber von wem denn?« Elenas Gedanken überschlugen sich. »Hier draußen ist doch außer uns niemand! Wir sind doch fernab von jeder üblichen Route.«
Erneut ging ein Ruck durch die Station, auch wenn er dieses Mal niemanden von den Beinen riss. Das Surren der Klimaanlage ebbte ab und verstummte. Im gleichen Moment fiel die Beleuchtung aus. Nur die Alarmleuchten, die sich unablässig drehten, tauchten die Umgebung in ein unheilvolles rot-orangenes Licht.
Besatzungsmitglieder schrien verängstigt auf. Es dauerte lange, zähe Sekunden, bis die Notbeleuchtung ansprang. Das indirekte Licht reichte bei Weitem nicht aus, den Raum zu erhellen. Stattdessen warfen die Menschen bei jeder Bewegung bizarre Schattenspiele an die Wand. Gleichzeitig setzte auch die Umwälzanlage wieder ein, die die Luft austauschte. Ihr anschwellendes Rauschen erfüllte die Kammer.
Es hatte allerdings keine beruhigende Wirkung auf Elena, die einen Anflug von Panik nur mühsam niederrang. Sie wollte nicht sterben! Dieser Gedanke brandete mit einem Mal über sie hinweg.
Das Hauptversorgungssystem war ausgefallen. So viel war ihr klar. Und das Notsystem war nur für einen Einsatz von wenigen Stunden vorgesehen. Falls es überhaupt so lange durchhielt. Wenn es ihnen bis dahin nicht gelang, die OMNI wieder einsatzfähig zu machen …
Elena horchte auf.
Ein leises, gleichmäßiges Geräusch drang durch die Wände. Es ähnelte dem, das sie vorhin gehört hatte. Als würde Metall über den Boden geschleift. Doch dieses metallische Kreischen kam nicht mehr von der Außenhülle. Es kam aus dem Inneren der Station und es wurde mit jedem verstreichenden Augenblick lauter. Elena folgte dem Klang vor ihrem inneren Auge und sah förmlich den zentralen Korridor vor sich, der direkt zu diesem Raum führte.
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie den Gedanken nicht an sich heranlassen, und wich gleichzeitig von ihrer Position zurück. Langsam tasteten ihre Hände über das kalte Metall der Reling. Elena schob sich zurück und brachte mehr und mehr Abstand zwischen sich und das massive Schott, durch das sie den Raum betreten hatte. Melvin Chong sah sie verwundert an. Er vergaß offenbar für einen Augenblick die Schmerzen in seinem Knie.
»Hey, was ist denn? Was ist los?«, wollte er wissen.
»Das Geräusch …«, erwiderte die Mechatronikerin tonlos und stolperte weiter nach hinten. Sie hatte mehr als die Hälfte des Raums überbrückt und nahm aus den Augenwinkeln bereits das Schott am gegenüberliegenden Ende wahr.
»Welches Geräusch?«, hakte der Koreaner nach und humpelte einen Schritt auf sie zu. Dann blieb er stehen und hob den Kopf, wie alle anderen in dem kreisrunden Raum.
Ein Schlag dröhnte gegen das schwere Schott. Kreischend bog sich das Metall nach innen, als sei die verstärkte Legierung nicht mehr als eine dünne Aluminiumfolie. In der Ausbuchtung zeichneten sich drei dünne Striemen ab.
Wie Kratzer, ging es Elena durch den Kopf.
Der nächste Schlag ließ eine der Türstreben brechen. Metallsplitter sirrten durch die Luft. Das obere Ende des Schotts bog sich bedrohlich nach innen und wippte in seiner Verankerung.
Elena sah das Flackern in Chongs Augen. Der Wartungstechniker humpelte einen Schritt auf sie zu. Trotz des schwachen Dämmerlichts konnte sie verfolgen, wie alle Anwesenden zum gegenüberliegenden Ende des Raumes zurückwichen. Eine gespenstische Ruhe lag mit einem Mal in der Luft. Niemand wagte einen Ton zu sagen. Alleine das angestrengte Atmen war zu hören.
Das Schott barst mit einem lauten Krachen und zerbrach in mehrere Teile. Elena konnte nur hilflos zusehen, wie Kollegen von den Trümmerstücken getroffen wurden. Deckenplatten zersplitterten wie Glas unter der Wucht des Aufpralls.
Es war jedoch nicht der Anblick der geborstenen Tür, der Elena entsetzte, sondern der Schatten, der sich in der fahlen Beleuchtung schemenhaft abzeichnete.
Auf den ersten Blick glich er einem überdimensioniert großen Hund. Doch als sich die Kreatur aus ihrer gebeugten Haltung erhob, überragte sie die Menschen um mehr als einen Kopf. Die Haut des massigen, gedrungenen Körpers schimmerte wie eingeöltes Leder. Seine muskulösen Vorderarme endeten in unterarmlangen, leicht gebogenen Klauen, die in dem schwachen Licht silbern glänzten. Mit einem Ruck riss das Wesen seine rechte Hinterpranke aus einem Bruchstück des Schotts.
Kalt glitzernde Augen blickten die Menschen aus dem lang gezogenen Schädel an, dessen Halsansatz so tief am Körper lag, dass es wirkte, als habe die Kreatur einen Buckel. Zischend öffnete sich ein schmaler Spalt in der unteren Geschichtshälfte und entblößte zwei Reihen langer, spitzer Zähne, die sich wie Hauer gegenseitig überlagerten.
Kurz nur sah sich die Kreatur in dem Dämmerlicht um. Schneller als die Augen folgen konnten, sprang sie mit einem mächtigen Satz empor und landete mitten unter den Menschen. Ihre rechte Klaue schnitt durch die Luft.
Eine Stimme gurgelte unterdrückt auf und erstarb.
Das Geräusch hallte unwirklich in Elenas Ohren wider. Sie japste, als ihr etwas Feuchtes ins Gesicht spritzte. Hastig wischte sie es mit den Fingern ab und konnte das Blut trotz des schwachen Lichtscheins nur allzu deutlich erkennen. Sie sah einen schrecklich entstellten Körper zu Boden sinken und daneben den dunklen Schatten, der sich mit unfassbarer Schnelligkeit seinem nächsten Opfer zuwandte.
Elena hörte sich zuerst selbst nicht schreien, dann vermengte sich ihre gellende Stimme mit denen aller anderen. Die Menschen stießen sich gegenseitig aus dem Weg, um der Kreatur zu entkommen, und schlugen um sich.
Etwas packte Elena an der Hüfte. Sie kreischte und riss den Arm hoch. Einer harten Klammer gleich schlossen sich Finger um ihr rechtes Handgelenk und drückten es nach unten.
»Hör auf! Ich bin es!«, fuhr sie eine Stimme herrisch an, während sie nach hinten gezerrt wurde. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Elena bewusst wurde, wie Melvin Chong sie mit sich riss und auf das hintere Schott zueilte.
»Los, los, los!«, schrie er und fuhr mit der Hand tastend über die Wand.
Elena wusste, was er suchte. Hastig sah sie sich um. Wo befand sich dieser verdammte versteckte Schalter, der die Notöffnung aktivierte?
Laut Vorschrift hatten alle Schotts bei einem Hüllenbruch geschlossen zu bleiben, bis der Alarm wieder aufgehoben war. Doch diese Steuerung ließ sich auch manuell umgehen, wenn sie von zwei Personen gleichzeitig bedient wurde. Sie atmete auf, als Chong eine Abdeckung verschob und darunter das Kontrollpanel sichtbar wurde.
Elena beschwor alle Heiligen, die ihr in den Sinn kamen, als sie ihren Daumen wie Chong auf ein Sensorfeld presste. Ihre unterschiedliche DNA wurde in Sekundenschnelle erkannt, und das Schott wurde entriegelt.
Leise zischten die hydraulischen Ventile, während die schwere Tür fließend in der Wandversenkung verschwand. Elena stolperte über den unteren Absatz der Schleuse und schlug hart mit der Schulter auf. Sie rang nach Atem und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Auf allen Vieren robbte sie weiter.
Hinter ihr warf sich der Koreaner durch die Öffnung. Er rollte sich nach vorne und suchte nach dem Schalter auf der anderen Seite, um das Schott zu schließen. Doch noch bevor seine Finger den Druckknopf erreichten, blitzte etwas durch die Luft.
Ein gellender Schrei löste sich aus Chongs Kehle. Verzweifelt schlug er um sich, während sein Körper nach hinten gerissen wurde und ihn ein dunkler Schatten unerbittlich zurück in den Raum ziehen wollte. Seine Hände reckten sich Elena entgegen. Flehentlich blickte er sie aus weit aufgerissenen Augen an.
Sie reagierte instinktiv und schloss ihre Hände um Chongs Handgelenke. Seine Finger gruben sich tief in ihr Fleisch. Elena stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Absatz der Schottöffnung und zog ihren Kollegen zu sich her. Sie wagte kaum, den Kopf anzuheben. Denn sie wollte nicht mehr sehen als das, was sie aus den Augenwinkeln wahrnahm.
Mit einer Hand hielt die Kreatur das verletzte Bein von Chong umklammert, während die andere Hand einem Dreschflegel gleich durch den Raum schwang. Schreie gellten auf und verstummten.
Lass ihn los!, schrie es in ihr. Lass ihn los und renn weg, solange du noch kannst! Hau ab, hau ab, hau ab!
Elena schüttelte über den Gedanken, der mit voller Wucht in ihr widerhallte, den Kopf. Tränen flossen über ihre Wangen. Sie würde Melvin hier nicht zurücklassen! Ihre Finger setzten neu an und packten ihn bei den Unterarmen.
Vielleicht hatte sich das Monster für einen Augenblick nicht auf sein Opfer konzentriert. Vielleicht war es nicht mehr als Glück – wichtig war für Elena nur, dass sie plötzlich mit einem Ruck nach hinten flog und Melvin Chong mit sich riss. Er landete hart auf ihr und presste ihr für einen Moment den Atem aus der Lunge.
»Das Schott!«, keuchte er kaum verständlich und rutschte von ihr.
Elenas Blick wechselte zwischen dem Notschalter und dem Schatten in der Tiefe des Raums, der sich nun in aller Ruhe aufrichtete. Sie sah die bösartig leuchtenden Augen, die sich vom Dämmerlicht abhoben. An den dunkel glitzernden Krallen des Wesens klebten Blut und Überreste von etwas, das in ihr Übelkeit aufsteigen ließ.
Elena wuchtete sich hoch und zog Chong so gut sie konnte mit sich. Sie konnte sich selbst nicht erklären, woher sie die Kraft dazu nahm. Hastig schoben ihre Finger die Abdeckung zur Seite. Sie nahm Chongs blutbesudelte Hand und drückte einen seiner Finger gegen das Scannerfeld. Der Koreaner sackte förmlich in sich zusammen und zog sie mit seinem Gewicht fast mit sich.
Elena drückte einen Finger gegen das andere Feld und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Unendlich scheinende Sekunden vergingen, bevor die Elektronik regierte.
Die unwirkliche Kreatur stieß sich ab.
Elena schrie auf und riss die Hände vors Gesicht.
Ein schweres Dröhnen folgte, gefolgt von einem unterdrückten, wuterfüllten Grollen.
Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, bis Chongs heiseres Lachen zu hören war, das rasch erstarb.
Elena senkte die Arme und sah das geschlossene Schott vor sich. Es wies im oberen Drittel eine starke Delle auf, doch es hatte gehalten. Gerade als sie erleichtert auflachen wollte, ließ ein schwerer Schlag das Metall erzittern. Elena schrie auf. Sie packte Chong am Unterarm und wollte ihn hochzerren.
»Wir müssen weg, Melvin!«, rief sie. »Das Schott wird das Monster nicht lange aufhalten!«
Sie warf den Kopf herum und sah in die Tiefe des Gangs, als hoffte sie, dort eine Rettung zu finden. Sie machte einen Schritt in die Richtung, doch es war, als habe sie alle Kraft verlassen, denn der Körper ihres Kollegen schien mit einem Mal eine Tonne zu wiegen. Sein Arm rutschte aus ihrem Griff.
»Kann nicht …«, antwortete Melvin Chong kaum hörbar. Sein Oberkörper kippte nach vorne. Elenas Augen weiteten sich. Der Overall hing in Fetzen vom Rücken. Aus mehreren klaffenden Wunden floss tiefrotes Blut in breiten Bahnen. Gesplitterte Knochen ragten aus dem aufgerissenen Fleisch.
Ihr Magen verkrampfte sich. Sie beugte sich vor und übergab sich.
Auf der gegenüberliegenden Seite stieß etwas mit aller Wucht gegen das Metall. Ein Haarriss zeichnete sich auf der graublau schimmernden Oberfläche ab.
Die Mechatronikerin atmete japsend. Augenblicke lang befürchtete sie, keine Luft mehr zu bekommen. In diesem Moment dröhnte das Metall des Schotts erneut auf. Sie schrie auf. Eine Gänsehaut zog sich über ihren Rücken. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, während das wütende Toben in ihren Eingeweiden zu einem quälenden Ziehen wurde. Ihr ganzer Körper zitterte.
Sie sah nach Chong.
»Du kannst, verdammt! Ich lass dich doch hier nicht alleine zurück!«, brachte sie hervor.
Dabei robbte sie auf ihn zu und hob seinen Kopf an. Sie blickte in zwei gebrochene Augen.
Der Kloß in ihrer Kehle ließ sie nach Luft ringen. Sie war zu keinem Gedanken mehr fähig und starrte vor sich hin. Es würde ohnehin nur wenige Augenblicke dauern, bis das Monster auch dieses Schott aufgerissen hatte. Wohin also sollte sie fliehen?
Elena ließ die Schultern sinken. Müdigkeit machte sich in ihr breit. Mit einer Gefasstheit, die sie selbst nicht verstand, blickte sie auf das metallene Tor und wartete ab – doch es vergingen Minuten, ohne dass etwas geschah.
Verunsichert setzte sie sich auf dem blutverschmierten Boden auf und vermied es, den leblosen Körper neben sich anzusehen. Mit der Hand fuhr sie sich über den Mund und wischte die letzten Reste Erbrochenes an ihrem Overall ab.
Ihre Augen brannten. Sie sah sich mehrmals um und spähte in die Tiefe des Korridors, der von der Kammer wegführte, als rechnete sie damit, dass ihr die Kreatur nur einen Streich spielen wollte und jeden Augenblick aus dieser Richtung auf sie zuhetzte. Doch so lange sie auch wartete, es geschah nichts.
Endlich wagte sie es, aufzustehen.
Ihr Hals schmerzte. Sie hustete und spuckte aus. Ihre Beine gaben nach, als sie sich aufrichtete. Sie knickte bei den ersten Schritten beinahe weg, doch sie stemmte sich gegen die Schwäche und stolperte den Gang entlang.

 

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