“Das Orion-Projekt: Countdown” – Leseprobe

 

1.

10. Dezember 2218

»Außenteam drei schleust nun aus. Vorgesehene Zeit bis zum Erreichen des Massekatapults fünfzehn Minuten. Countdown läuft«, meldete Rheyna Harper.
Okuda Takeshida nahm die Mitteilung scheinbar gelassen zur Kenntnis. Er nickte seiner Stellvertreterin zu und blickte auf den Monitor. Die Bordkameras fingen nun das Außenteam ein, das sich vom Schiffsrumpf löste. Immer wieder flammten für einen kurzen Moment Steuerdüsen auf, mit denen die Techniker ihren Kurs korrigierten und das gebogene Gebilde in ihrer Mitte neu ausrichteten.
Es war das letzte Teilsegment des Eindämmungsrings, das in das Massekatapult eingefügt werden musste. Sobald es installiert war, konnten die ersten Testreihen laufen. Okuda Takeshida hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und bei dem Gedanken daran spannte sich sein ganzer Körper an. Er grub die Finger in die Oberarme und presste die Lippen zusammen.
Sie waren hier draußen vollkommen auf sich alleine gestellt. Sollte etwas schief gehen, gab es niemanden, der sie unterstützen oder zur Hilfe eilen konnte. Die nächste Hilfe lag fünfhundert Lichtjahre entfernt.
Die Aufbauarbeiten am Katapult hatten bereits zwei Tage mehr benötigt, als dafür angesetzt waren. Sie hatten den Versuch, das ringförmige Gebilde in einer geostationären Bahn zu errichten, aufgeben müssen. Selbst in diesem Orbit sorgten die Magnetfelder rings um Kepler-186f für energetische Turbulenzen. Nicht mehr in einem Ausmaß, um eine Gefahr für die Raumschiffe darzustellen, doch das Energiefeld, das durch das Katapult errichtet wurde, tolerierte nur Fluktuationen im Nanobereich.
Ohne die Positionslichter hätte er die Ringkonstruktion in der Schwärze des Alls nicht ausmachen können. Selbst die ausladendsten Bauelemente hatten nicht mehr als vier Meter Durchmesser. Es war ein spindeldürres Gebilde, das nur in der Schwerelosigkeit des Weltraums errichtet werden konnte. Doch erst diese leichte Bauweise ermöglichte es, die einzelnen Segmente in der Ladebucht eines Raumschiffs zu verstauen und es an jedem gewünschten Ort zu errichten. Ohne auf den Einsatz von schweren Maschinen angewiesen zu sein. Jede geschulte Crew konnte es selbst ohne Zuhilfenahme von Arbeitsrobotern errichten.
Und er hatte die beste Mannschaft, die er sich wünschen konnte. Jeder von ihnen war handverlesen, zumindest aus dem wissenschaftlichen Stab. Und er wusste, dass er jedem von ihnen bei der Auswahl geeigneter Mitarbeiter bedingungslos vertrauen konnte. Jahrelang waren seine Vorhaben gerade auch daran gescheitert, dass er bis hinunter ins letzte Glied jeden einzelnen Aspekt kontrollieren und bestimmen wollte. Er hatte nicht einsehen wollen, dass solch ein Projekt in seiner Komplexität für einen Einzelnen viel zu groß war.
Jetzt, da er hier auf der Kommandobrücke zur Untätigkeit verdammt war und nichts anderes tun konnte, als den Technikern und Ingenieuren zuzusehen, wäre er am liebsten selbst in einen Raumanzug gestiegen, um das letzte Segment einzufügen.
»Einen Tee, Professor?«
Er reagierte zuerst nicht auf die Anfrage und brauchte Sekunden, bis er merkte, dass die Frage an ihn gerichtet war. »Hm?«, meinte er und sah, dass Rheyna sich auf ihrem Sessel zu ihm umgedreht hatte.
»Tee?«
Er winkte ab. »Nein, danke. Ich möchte mich lieber auf die vor uns liegenden Aufgaben konzentrieren.«
»Das sehe ich«, meinte seine Stellvertreterin lächelnd. »Sie sind so angespannt, dass ich am liebsten eine Dehnungsfuge des Katapults bei Ihnen einsetzen möchte.«
»So alt bin ich noch nicht, dass meine Knochen bei der kleinsten Belastung knirschen werden, Rheyna«, antwortete er und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er winkte erneut ab. »Aber machen Sie ruhig eine Pause. Bevor das Segment nicht eingefügt ist, bleibt uns ohnehin nichts anderes übrig, als abzuwarten.«
»Und Tee zu trinken«, ergänzte sie und erhob sich von ihrem Platz. »Ich mache Ihnen eine Tasse. Nur für alle Fälle. Nicht, dass Sie meine nachher austrinken, sobald Sie den Duft riechen …«
Sie lächelte ihm zu und verschwand hinter seinem Rücken. Er sah ihr kurz nach und richtete seine Augen dann wieder auf den Monitor. Selbst das Aufleuchten der Steuerdüsen der Raumanzüge war nun kaum mehr als ein punktgroßes Licht.
Takeshida beugte sich über das Pult und rief auf der Glasplatte weitere Außenkameras auf. Die Entfernung von Kepler-186f war nun so beträchtlich, dass der Planet, der einen größeren Durchmesser als die Erde besaß, gerade noch die Ausmaße eines Baseballs hatte. Er fühlte ein Unbehagen beim Anblick des grünlich schimmernden Balls und wünschte sich, sie hätten nach der Inbetriebnahme des Massekatapults einen direkten Sprung zur Erde machen können, ohne noch einmal landen zu müssen.
Zu vieles geschah dort unten, das er nicht an sich heranlassen wollte. Zu vieles, auf das er keine Antworten hatte. Und nicht einmal wusste, ob er sie wollte. Der Planet selbst war mehr als sich die Menschheit hatte erhoffen können. Doch er barg ein Geheimnis, das ihnen allen hier an Bord bewusst machte, dass sie nicht … alleine waren.

 

»Wer hätte gedacht, dass es Spaß macht, mit diesem Gestell durch die Gegend zu kurven?«, rief Kamal Bundajar mit einem Lachen in der Stimme. Er saß auf der Rückbank und hielt sich mit beiden Händen am Gestänge fest.
Michael Reed hatte ihn darum gebeten, dort Platz zu nehmen. Säße er auf dem Beifahrersitz, hätte er um den Schwerpunkt des Gefährts gebangt. Zudem erschien es ihm im Augenblick effektiver für den Teamgeist, Zoe Solvensen dort Platz nehmen zu lassen. Auch wenn sie die Fahrt offenbar bei Weitem nicht so genoss wie der Inder.
Reed steuerte den ATR über einen sanften Hügel. Die breiten Reifen des All Terrain Rovers rauschten durch den flechtenbewachsenen Untergrund. Die Achsenaufhängung fing die meisten Bodenunebenheiten ab. Das war aber auch der einzige Luxus, den dieses Gefährt bot, das kaum mehr war als ein verschraubtes Gestänge mit Sitzen. Sie kamen auf ihren Missionen selten dazu, es einzusetzen, da sie meist auf offizielle Truppentransporter zurückgriffen, die sie direkt in ihr Einsatzgebiet flogen.
Aber es gehörte zur Standardausrüstung eines Biwaks, und es erlaubte ihnen, die Umgebung weiträumiger zu erkunden. Sie hatten seit ihrer Landung kaum mehr untersucht als den Bereich rund um die Schiffe oder das außerirdische Bauwerk. Selbst Takeshidas Crew hatte sich auf diesen eng abgesteckten Bereich beschränkt.
Reed gab zu, dass es auch die Langeweile war und er sich die Zeit vertreiben wollte, die sie bis zur Rückkehr der Raumschiffe hier ausharren mussten. Aber gleichzeitig hielt er es für zwingend nötig, mehr über diesen Planeten zu erfahren, bevor sich die UAC entschloss, die ersten Siedler hierher zu entsenden.
Und er musste den Kopf frei bekommen nach dem, was ihnen Karen Suryan erzählt hatte.
Yethrall, Sukkuan, D’naar … sie waren in ein politisches Gemengelage geraten. Er dachte nicht daran, die einzelnen Seiten in ›Gut‹ oder ›Böse‹ einzuteilen. Er wusste nur, dass die Yethrall genau wie sie gegen die … – K’shyrr? – vorgingen, und das genügte ihm, um sie als mögliche Verbündete zu betrachten.
Ihm war klar, dass er zumindest mit McBridger Rücksprache halten müsste und es eigentlich eine Angelegenheit des Verteidigungsministeriums war, Gespräche in dieser Richtung zu führen. Doch dazu fehlten ihm hier und jetzt die Gelegenheiten. Und er befürchtete, auch die Zeit.
»Hast du irgendein Ziel im Auge oder willst du nur so viel Gebiet wie möglich abdecken?«, fragte Bundajar.
»Lieutenant, ich schlage vor, wir steuern diese Erhebung an«, meinte Zoe Solvensen, bevor Reed etwas erwidern konnte. Sie deutete auf eine Felsformation, die sich nun immer deutlicher aus dem frühmorgendlichen Dunst erhob, in dem sie verborgen gelegen hatte.
»Einverstanden«, meinte Reed. »Das ist unser Ziel für diese Tour. Sie haben ihn entdeckt. Geben Sie ihm einen Namen«, wandte er sich an seine Stellvertreterin. Zoe erwiderte seinen Blick zuerst mit einem spöttischen Gesichtsausdruck, merkte dann aber, dass er es ernst meinte.
»Zoe’s Rock?«, meinte Bundajar und grinste. Er zwinkerte ihr dabei zu.
Sie sagte nichts dazu und sah nach vorne.
»Marcus’ Rock«, meinte sie plötzlich. »Nach meinem Vater. Er war passionierter Bergsteiger.«
»War?«, hakte Reed nach.
»Ja. Er kam bei den Unruhen auf dem Mars vor gut zwölf Jahren ums Leben. Es war sein erster Besuch auf dem Mars. Danach bin ich zum SMC.« Sie blickte starr geradeaus und sprach nicht weiter, und Reed verzichtete darauf, nachzufragen.
»Also ›Marcus’ Rock‹. Geht für mich in Ordnung«, meinte er.
Je näher sie der Felsformation kamen, desto mehr wuchs sie vor ihnen in die Höhe. Sie erinnerte entfernt an den Ayers Rock in Australien, auch wenn sie deutlich zerklüfteter war. Große Teile waren aus dem Felsen herausgeschlagen worden, als habe jemand mit einem Meißel versucht ihn zu spalten. Rings um ihn lehnten sich turmhohe Gebilde gegen seine steilen Wände, die zuerst aussahen, als seien es herausgesprengte Felsnadeln.
Doch je näher sie kamen, desto gleichmäßiger wirkte die Struktur dieser Objekte. Sie war viel zu regelmäßig, um natürlich gewachsen zu sein.
»Das sind Raumschiffe!«, sprach Solvensen als Erste die Vermutung aus.
»Unmöglich, viel zu groß!«, erwiderte Bundajar.
Doch Reed musste der Frau an seiner Seite recht geben. Mit jeder Sekunde, in der sie näher kamen, konnte er die Hüllenstruktur der Schiffe besser erkennen. Nun stöhnte Kamal auf.
»Schei…ße …«, murmelte er.
Reed bremste den ATR sanft ab und stieg aus. Er ging ein paar Schritte auf den Felsen zu, der noch immer gut zwei Kilometer entfernt sein mochte, und beschattete seine Augen gegen das Licht der tief stehenden Sonne. »Solvensen, sammeln Sie mit dem Pad Informationen, vor allem über Strahlung. Ich möchte nicht geradewegs in ein radioaktiv verseuchtes Gebiet hineinfahren!«
»Ja, Sir«, antwortete sie, und dieses Mal wirkte es nicht so schnippisch wie sonst. Er sah ihr zu, wie sie das Pad bediente und richtete seinen Blick wieder auf die gewaltigen Hüllenskelette, von denen er nun noch weitere ausmachen konnte.
Wie viele mochten es sein? Er konnte alleine auf dieser Seite des Felsens mindestens vier ausmachen, und auf den ersten Blick wirkten sie, als besäßen sie alle dieselbe Bauweise. Sie waren deutlich filigraner als irdische Schiffe, mit einem langgezogenen und geschwungenen Rumpf, der beinahe an eine Vogelfeder erinnerte. Oder die Klinge eines Messers.
»Geringe Reststrahlung«, teilte Solvensen die Ergebnisse ihres Scans mit. »Nicht akut gefährlich. Dennoch schlage ich vor, uns in unseren Overalls nicht länger als eine Viertelstunde dort umzusehen. Mit unseren T3 könnten wir uns natürlich deutlich länger dort aufhalten, aber dann müssten die Rüstungen dekontaminiert werden.«
»Dafür fehlt uns die Ausrüstung«, erwiderte Reed. »Und ich stimme mit Ihrem Vorschlag überein. In der kurzen Zeit können wir zwar kaum etwas in Erfahrung bringen, aber ich möchte Bildmaterial sammeln.«
»Es sieht ganz so aus, als ob dieser Planet eine bewegte Vergangenheit hat, Lieutenant«, meinte Solvensen mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht. »Und wir sollten so viel darüber herausfinden, wie wir können …«

 

Zum Roman