„Jenseits der Sonne“ – Leseprobe

 

1.

»Valkyrie-3, hier ist Mission Control. Bitte melden!«
»Valkyrie an Capcom, Burke hier. Was können wir für euch tun, Jungs?«
»Burke? Was machen Sie an der Konsole? Wo ist Commander Storm?«
Richard Burke fuhr sich durch den Igelschnitt seines Haarschopfs und verzog die Lippen. Etwas, das Mission Control nicht sehen konnte, da er die Bildübertragung nicht aktiviert hatte. Er drehte seinen Kopf so gut es ging nach links und verfluchte dabei die enge Halsmanschette, die seine Bewegung einschränkte. Sein Blick fiel auf die halb geöffnete Luftschleuse am anderen Ende der Kabine.
»Commander Storm ist zusammen mit Dr. Eisner im Lunar Module. Sie überprüfen die Ausrüstung. Die Wissenschaftlerin ist bei ihrem ersten Einsatz offensichtlich etwas nervös«, antwortete er schließlich. Er wusste, dass das nicht stimmte, aber er hoffte, dass Houston ihm die Geschichte abkaufte.
Einige Sekunden herrschte Funkstille, bevor sich Brian Hughes meldete, der als Capcom für den Funkverkehr zwischen Houston und der Valkyrie zuständig war.
»Roger. Sagen Sie ihm, er soll sich asap melden, sobald der Check abgeschlossen ist. Wir spielen die abschließenden Telemetriedaten hoch und benötigen Ihre Gegenwerte.«
»Ich gebe es weiter«, antwortete Burke. »Ich gehe davon aus, dass sich der Commander in einer Viertelstunde meldet.«
Zumindest hoffte er das …

 

Dr. rer. mont. Kate Eisner keuchte auf.
Die junge Wissenschaftlerin versuchte einen strengen Blick aufzusetzen, wehrte sich aber nicht dagegen, dass John Storm sie ein zweites Mal küsste. Schließlich drückte sie ihn weg. »Das ist unbequem in den Anzügen, John! Komm, hör schon auf!«
»Aber nur, weil du als wissenschaftliche Leiterin meine Vorgesetzte bist«, lachte Storm auf. »Hier im Module sind wir wenigstens etwas ungestört. In Houston waren wir die letzten Wochen ja ständig unter Aufsicht.«
»Zumindest habe ich dort meine Arbeit noch ordentlich erledigen können!«, begehrte Eisner wenig überzeugend auf. Sie verfluchte sich innerlich dafür, sich Hals über Kopf in den ersten Raumschiffkommandanten verliebt zu haben, der ihr über den Weg gelaufen war. John Storm sah ihr in aller Ruhe zu, wie sie sich in dem schweren Druckanzug ihre Haare zu einem Pferdeschwanz binden wollte.
»Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mich dazu habe hinreißen lassen …«, murmelte sie vor sich hin.
»Weil du die erste Chance ergreifen wolltest, zum Mond zu kommen. Genauso wie ich. Und wenn diese Mission Erfolg hat, dann winkt uns der eigentliche Preis: der Flug zum Mars«, machte ihr John Storm klar.
Kate Eisner spürte, wie sie diese Vorstellung erregte. Mehr noch als das romantische Intermezzo, das sie gerade mit dem Piloten gehabt hatte. »Sprich weiter …«, flüsterte sie rau.
Storm lachte. »Seit Vice President Gingrich das Raumfahrtprogramm wieder forciert, hat sich eine verschworene Clique gebildet. Von Menschen, die zu den Sternen wollen. Die ihre eigenen Grenzen ausloten und die ein Abenteuer wagen, von dem die meisten nur träumen.«
Kate hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. Sie hatten jeden Schalk verloren und leuchteten vor Begeisterung. Er schien von einer Motivation angetrieben zu sein, wie sie es noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Sicher, Storm sah blendend aus. Er war Ende Dreißig, knapp einsneunzig, hatte kornblonde Haare und leuchtend blaue Augen. Doch was sie vom ersten Augenblick an fasziniert hatte, war dieses Feuer in ihm. Sie fühlte sich wie er, wie jemand, dem die Welt alleine auf Dauer nicht genug ist.
»Komm schon«, meinte er und zog sie in der Schwerelosigkeit mit spielerischer Leichtigkeit zu sich. »Wie viele Männer haben dir wirklich den Mond vom Himmel geholt? Hm?« Er deutete durch die Sichtluke der Mondlandefähre auf die silbergraue Scheibe, die fast ihr gesamtes Blickfeld einnahm.
Kates Herzschlag beschleunigte sich bei dem Anblick unweigerlich. Eigentlich müssten die offiziellen Anlässe schon ausreichen, um sie nervös zu machen. Sie war die erste Frau, die den Mond betreten würde. Und das auf den Tag genau zum 50-jährigen Jubiläum der Landung von Apollo 11. Der 20. Juli 2019 …
Sie warf einen Blick auf den Chronometer an ihrem Handgelenk, auf dem die Zeit wie bei einem Countdown rückwärts lief. Noch 12 Stunden und 38 Minuten, bevor sich die Kapsel nach zwei Umrundungen um den Mond vom Versorgungsschiff lösen und auf der Oberfläche landen würde.
Genau wie die Eagle im Meer der Ruhe, so nahe wie möglich an der Landestelle seinerzeit. Bei der NASA traute man niemand außer John Storm solch ein punktgenaues Manöver zu. Er war der beste Pilot, den die Raumfahrtbehörde hatte. Er wusste das, und er genoss sein Ansehen. Kate sah ihn an und schüttelte den Kopf. Nicht, dass das Ego dieses Mannes eine Bestätigung benötigte …
»Was ist denn?«, wollte Storm wissen. »Du hast über mich nachgedacht, stimmt’s?«, hakte er grinsend nach.
Sie sah ihn tadelnd an. »Du bist sowas von eingebildet, weißt du das? Mich wundert’s, dass dein Ego überhaupt in so einer Kapsel Platz hat!«
»Ihre physikalischen Betrachtungen in allen Ehren, Miss Eisner«, unterbrach Burke sie über das Interkom, »aber Capcom hat schon zweimal nachgefragt, wann Commander Storm endlich mit Mission Control sprechen wird.«
»Wie lange hörst du schon zu, Rick?«, fragte Storm in Richtung Verbindungsschleuse.
»Auf Kanal eins läuft nur der Shoppingsender, also habe ich mir notgedrungen eure Soap reingezogen«, entgegnete sein Freund und Copilot lakonisch.
»Sag Hughes, ich bin umgehend da!« Der jugendliche Schalk war aus seinem Gesicht verschwunden. Sein Blick strahlte eine unerwartete Kälte aus. Ohne sich nach der Wissenschaftlerin umzudrehen, hangelte er sich in der Schwerelosigkeit zur Schleuse vor und schob sich durch die runde Öffnung, die beide Raumfahrzeuge miteinander verband.
In diesem Moment merkte Kate Eisner, wie fremd ihr dieser Mann doch eigentlich war, und sie fröstelte.
Storm erreichte den Kommandosessel und zog sich in die Sitzschale.
»Du hättest doch schon früher Bescheid geben können, Mensch«, raunzte Storm seinen Freund an. Dieser winkte ab.
»Ich habe auf der Akademie häufig genug für dich Schmiere gestanden und weiß, wie lange du brauchst.«
John Storm runzelte die Stirn. »Bin ich wirklich so berechenbar?«, fragte er nach und grinste schließlich.
»Ich kenne dich einfach, mein Lieber«, meinte Richard Burke. »Obwohl … dass du die Eisner wirklich an Bord bekommst, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Du bist echt der erste Astronaut, der mit seiner Flamme eine Spritztour zum Mond unternimmt! Und jetzt lad endlich die Telemetriedaten hoch, bevor wir noch auf dem Mars ankommen«, knurrte er.
»Dort landen wir als Nächstes, alter Junge!«, gab Storm lachend zurück und nahm Verbindung zu Mission Control auf.

 

2.

Mit einem heftigen Ruck löste sich das Lunar Module aus seiner Verankerung. Einen Augenblick lang trieb es steuerungslos durchs All, dann heulte das Triebwerk der Mondlandefähre auf. Ein grollendes Röhren erfüllte die enge Kapsel. Kate Eisner spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie bekam unwillkürlich Atemnot und versuchte sich an ihr Training im Simulator zu erinnern.
Das kleine Gefährt schaukelte wild hin und her. Der Flüssigtreibstoff auf Hydrazinbasis sorgte für die nötige Schubkraft, um den kontrollierten Absturz – und um nichts anderes handelte es sich – des Lunar Modules rechtzeitig abzubremsen.
Nur aus der Ferne hörte die Bergbauingenieurin durch den geschlossenen Helm die Daten, mit denen Richard Burke aus dem Orbit den Piloten an ihrer Seite versorgte.
Kate Eisner blickte in das angespannte Gesicht Storms, aus dem alle Unbeschwertheit gewichen war. Seine harten Züge zeigten, wie sehr er sich im Augenblick mit höchster Konzentration auf die Landung vorbereitete. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich bedingungslos auf seine Fähigkeiten zu verlassen.
Ihre Hände krallten sich trotz der dicken Fingerkuppen ihrer Handschuhe in den Sitz. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, dass ihre Sicherheitsgurte noch immer geschlossen waren, und auf eine gewisse Weise beruhigte sie das. Zumindest für diesen Augenblick.
»Wenn du nach links siehst, kannst du gleich den Archimedes-Krater sehen«, hörte sie plötzlich eine Stimme in ihrem Helmfunk. Kate schrak förmlich zusammen. »Danach überfliegen wir die Apenninen, auch wenn es nicht die in Italien sind …«
Die Ingenieurin stöhnte. Sie musste all ihre Beherrschung aufwenden, um nicht Todesängste auszustehen, und er gönnte sich einen Blick in die Landschaft!
»Danach fliegen wir in einem Bogen über das Mare Serenitatis und kommen dann zum Mare Tranquilitatis – dem Meer der Ruhe. Unserem Ziel.«
Auch seine Stimme hatte etwas Beruhigendes. Kate Eisner wandte trotz ihrer Anspannung den Kopf und sah im Halbdunkel, wie er ihr mitten in einer Kurskorrektur durch das matte Helmglas zuzwinkerte. Sein Gesicht strahlte eine Zuversicht aus, die auf sie übergriff.
Doch dieser kurze Moment der Ruhe war so schnell verflogen, wie er gekommen war.
Mitten in der Bewegung geriet die Landefähre ins Trudeln. Die Ingenieurin wurde in ihrem Sitz hin und her geschleudert. Durch den Mondanzug hindurch spürte sie die Gurte, die sich bei jedem Richtungswechsel schmerzhaft in ihren Körper gruben.
Kate atmete hektisch. Sie sah durch eine Luke die Mondoberfläche irrwitzig rasch näher kommen. Zu schnell, wir sind viel zu schnell!, schoss es ihr durch den Kopf.
Alles in ihr bereitete sich auf den Aufprall vor. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden, und murmelte ein leises Gebet vor sich her.
Die Deuterium-Bremstriebwerke schalteten sich grollend zu, während der Commander an ihrer Seite die kleinen Düsen steuerte, mit denen er die Fähre so gut wie möglich im Gleichgewicht hielt. Kate sah, wie er sich nach vorne beugte und mit all seinem Gewicht gegen die Steuerhebel stemmte. Sie wollte von ihm wissen, was passiert war, doch von ihren Lippen löste sich nicht mehr als ein Krächzen.
Ein heftiger Ruck ging durch die Fähre. Trotz des gepolsterten Sitzes fuhr ihr ein Schmerz durch den Rücken und sie fluchte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nicht zerschellt waren.
»Das war etwas rauer, als ich beabsichtigt hatte«, hörte sie die flapsige Bemerkung über das Helmmikro. »Nächstes Mal sollte ich die Kurve nicht so schneiden …«
»Du …«, setzte Kate Eisner zu einer Schimpfkanonade an, blickte dann aber in das Gesicht Storms und sah seine ernste Miene.
»Ein Bremstriebwerk ist ausgefallen«, erklärte er ihr knapp. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das abfangen kann.«
Kate schluckte hart.
»Danke«, murmelte sie leise, während ihr bewusst wurde, dass sie beide gerade dem sicheren Tod entkommen waren. John Storm antwortete ihr mit einem aufmunternden Lächeln, das seine flackernden Augen Lügen strafte. Er schaltete das Interkom an und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
»Houston, der Adler ist gelandet.«

 

Er hätte nicht geglaubt, dass er in diesem Augenblick wirklich nervös werden würde. Seit seiner Kindheit hatte er davon geträumt, eines Tages den Mond zu betreten. Fassungslos hatte er erlebt, wie das Weltraumprogramm der NASA immer weiter zurückgefahren wurde. Er hatte seinen Traum schon längst aufgegeben, als die Mondmission wie ein Phönix aus der Asche zurückkehrte.
Und in diesem Moment wurde der Traum wahr. John Storm spürte sein Herz schneller schlagen, als sich die Schleusentür öffnete. Sein Atem beschlug die Unterseite des Helmglases. Gleißendes Licht drang von außen ein. Er schob das verspiegelte Visier seines Helmes herunter. Mit einem Schnappen rastete es ein.
»Houston«, entfuhr es ihm mit einem Atemstoß, »ich betrete nun die äußere Plattform.«
»Alle Anzeigen sind im grünen Bereich, Commander«, antwortete ihm Capcom. »›Go‹ von Mission Control.«
»Danke, Brian«, erwiderte Storm und lächelte. Er drehte sich schwerfällig in dem wuchtigen Anzug um und sah in Kates Augen, die hinter ihrem Helmglas undeutlich zu erkennen waren. Sie wirkte nicht minder angespannt als er, und ihr Lächeln, das aufmunternd wirken sollte, verzerrte ihre Lippen. John Storm hob den Daumen nach oben und packte den Haltegriff rechts von der Schleuse. Die Tür hatte sich nun vollends geöffnet.
Trotz des mattierten Lacks schien das Sonnenlicht gleißend auf die Stiegen. John Storm machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Nach drei Tagen in der Schwerelosigkeit war die leichte Schwerkraft des Mondes für den Körper eine unerwartete Belastung. Er schwankte kurz. Unwillig schüttelte er den Kopf.
Nicht die Stufen hinunterstolpern!, befahl er sich. Das kommt nicht gut zur besten Sendezeit! Storm atmete schnaufend aus und trat auf die oberste Stiege. In diesem Moment war er vollkommen mit sich allein. Houston meldete sich nicht, und Kate Eisner sah ihm nur gebannt zu.
John Storms Finger schlossen sich um die Reling links und rechts der kurzen Trittleiter. Er hatte das Aussteigemanöver so häufig im Johnston Space Center geübt, um es im Schlaf zu beherrschen, doch im Augenblick glaubte er alles verlernt zu haben.
»Ich betrete nun die äußere Rampe, Houston. Bereits von hier aus kann ich den Boden sehen. Er wirkt wie grauer Fels, überzogen von einem Schleier aus weißer Asche.«
Schwerfällig löste er seinen rechten Fuß und ging etwas in die Knie.
»Ich bin nun auf der vorletzten Stufe. Wie muss das auf Neil gewirkt haben, als er das hier erblickt hat? Ich wünschte, wir hätten vor seinem Tod noch mehr Zeit gehabt, um über den Mond zu reden! Er hätte mir sicher noch ein paar gute Reisetipps geben können …«
John Storm senkte den Kopf. Der flache Teller des Landebeins zu seiner Linken hatte sich gut eine Handbreit in den Boden eingegraben. Dünner Staub hatte ihn halb bedeckt.
Fast traute er sich nicht, den letzten Schritt zu machen. Er lächelte über sich selbst und machte einen Satz auf die unterste Plattform. Sand wirbelte auf und schien in der Luft zu verharren. Storm schalt sich. ›Luft‹ gab es hier oben keine. Nur langsam rieselte der Staub auf den felsigen Untergrund.
»Ich betrete jetzt die Oberfläche, Houston.« Der Commander atmete tief durch und löste sich mit einem Satz von der Leiter. Für einen kurzen, unendlich scheinenden Augenblick verharrte er über dem Boden, dann setzten seine Stiefel auf dem Fels auf.
Storm atmete auf. Erst jetzt hob er den Kopf und ließ seinen Blick schweifen. Eine kalte, tote Welt umgab ihn. Schroffe, grauweiße Felsformationen bildeten einen harten Kontrast vor dem sternenlos scheinenden, schwarzen Himmel. Lange Schatten zogen sich über die unwirtliche Ebene.
Es war eine fremde, abweisende Landschaft, die ihn umgab. Und sie war … wunderschön.
»In Demut kehren wir zurück an diesen Ort, um von hier unseren nächsten Schritt zu unternehmen. Unseren Schritt zu den Sternen, für alle Menschen, die nach uns folgen mögen.«
Lange hatte er überlegt, welche Worte er Neil Armstrongs legendärem Zitat folgen lassen konnte. Sie hatten darüber gesprochen, vor bald acht Jahren, als er seinem Idol während seiner Ausbildung begegnet war. Er wusste nicht, wie schwülstig oder aufgesetzt sie auf andere wirken mochten. Doch die Demut, die er in diesem Augenblick empfand, erfüllte ihn vollkommen und legte sich schwer auf seine Brust.
Storm merkte, wie seine Augen feucht wurden. Jetzt werd mir nur nicht sentimental, rief er sich zur Ordnung.
»Houston, ich habe die Mondoberfläche betreten«, informierte er die Leitstelle nüchtern. »Ich inspiziere das Lunar Module. Keine äußeren Schäden. Die Lage ist stabil, alle Landebeine liegen sicher auf.«
»Roger, Eagle«, kam die prompte Antwort. »Auf unseren Anzeigen ist alles im grünen Bereich. Gute Landung, John!«
Storm lachte auf. Er schaltete auf internen Funk, damit nichts versehentlich an die Fernsehstationen ging. »Untersucht ihr mal lieber, was zum Ausfall des Bremstriebwerks geführt hat! Es ist schieres Glück, dass wir noch miteinander reden, Brian!«
»Das wissen wir, John. Und wir haben unsere Ingenieure schon darauf angesetzt. Sie sehen im Augenblick keine Auswirkungen auf den Rückstart. Genieß deinen Urlaub, Junge …«
Jetzt kam Storms Lachen gelöster. Er wusste, dass Houston die Schwierigkeiten genauso ernst nahm wie er, und er konnte sich auf die Bodencrew verlassen. »Haltet mich auf dem Laufenden. Storm Ende.«
Capcom bestätigte, dann herrschte wieder Stille. Es war eine ungreifbare Atmosphäre, auf einer Welt ohne Farben und ohne Geräusche zu stehen. Nichts, das sich bewegte oder veränderte. Wie ein in Kreide gemaltes Stillleben …
Storm löste sich aus seinen Gedanken und aktivierte den internen Funk. »Rick, hörst du mich?«
»Laut und deutlich«, folgte die Antwort augenblicklich. »Wie sieht’s da unten aus, alter Junge?«
»Es ist wunderschön. Erschreckend und beeindruckend zugleich. Ich wünschte, du könntest das sehen.«
»Ich habe von hier oben einen ganz guten Blick, danke. Du weißt, dass ich eher auf Grün stehe. Wenn du also irgendwelche Wiesen siehst, gib mir Bescheid.«
Storm grinste. »Ich grüße die Mondkälber von dir.«
»Rindvieh … Ich trete übrigens gleich in den Mondschatten ein«, die Verbindung wurde bereits schwächer und von einem Rauschen unterlegt. »Wir hören uns in dreißig Minu…«
»Rick? Rick?«, fragte John Storm nach, doch es folgte keine Antwort mehr. Da die Kapsel im Orbit den Mond umkreiste, tauchte sie regelmäßig in die erdabgewandte Seite ein. Und solange sie sich dort aufhielt, war ein Funkverkehr unmöglich.
Storm änderte die Frequenz. »Kate?«
»Na endlich!«, kam die Antwort. »Ich dachte schon, du meldest dich überhaupt nicht mehr!«
»Ich musste etwas für mich alleine sein, sorry. Die Umgebung ist gesichert. Die Außenkameras …«
»… sind schon eingeschaltet«, wurde er unterbrochen. »Meinst du etwa, ich hätte mit meinen Untersuchungen nicht schon längst begonnen?«
Storm lächelte in sich hinein. Manchmal vergaß er tatsächlich, dass sie als Bergbauingenieurin auf dieser Mission dabei war. Kate Eisner war von der NASA ausgewählt worden, um Bodenproben zu nehmen. Das Ziel war, später in einer ersten Mondkolonie auch ein Bergwerk zu errichten, um nach Bodenschätzen zu graben. Und vielleicht doch in eingeschlossenen Höhlen unter der Mondoberfläche auf die vermuteten Eisschichten zu stoßen, für die es bis heute keinen Beweis gab.
»Houston hat mir erlaubt, das Lunar Module zu verlassen. Ich komme jetzt raus«, teilte sie ihm mit.
Storm trat an die Ausstiegsluke der Fähre und sah, wie die Umrisse der Ingenieurin im Halbschatten immer deutlicher wurden.
»Spring! Ich fang dich auf.«
»Scherzkeks!«, entfuhr es ihr. Kate fluchte. »Das hatte ich mir einfacher vorgestellt, diese Leiter hinunterzukommen!«
Seinen flachsenden Worten zum Trotz, achtete John Storm konzentriert auf jede Bewegung der jungen Frau. Sollte sie stolpern, würde er sein eigenes Leben riskieren, wenn er versuchte, sie aufzufangen. Jede Beschädigung an seinem Druckanzug konnte den sofortigen Tod bedeuten.
Über den Helmfunk hörte er das Ächzen, mit dem sie schließlich auf dem steinigen Fels aufkam. »Meine Güte …«, vernahm er ihre atemlosen Worte. »Ich hätte es mir nie so vorgestellt.«
»Traumhaft, nicht wahr?«, lösten sich seine Worte rau.
»Ja, und gleichzeitig albtraumhaft.«
Unwillkürlich lief John Storm ein Schauer über die Haut. Er machte einen leichten Schritt nach vorne, und ohne es verhindern zu können, hob er in die Höhe ab. Die ersten Schritte hatte er eher trippelnd in dem schweren Raumanzug zurückgelegt, und so war ihm die Schwerkraft nicht wirklich aufgefallen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge und lachte. Es war gar nicht so leicht, mit diesen Sprüngen das Gleichgewicht zu halten, doch bereits nach wenigen Minuten konnte er seine Schritte so dosiert setzen, dass er sich in der Bewegung sicher fühlte. Kate ging es nicht viel anders, wie er an ihrem Fluchen und Lachen hören konnte.
Storm blieb mit einem Mal stehen und wies nach vorne.
»Schau, das Landegestell der Eagle von Apollo 11!«
Keine hundert Meter entfernt hob es sich wie ein undeutlicher Schemen vor dem dunklen Himmel ab. Kate trat an ihn heran.
»Wow …« Sie legte ihren Handschuh auf seinen rechten Unterarm. »Ich bin ehrlich beeindruckt. Du bist ein verdammt guter Pilot, weißt du das?«
John Storm fühlte sich bei ihren Worten fast verlegen, und das passierte ihm nicht häufig. Er hatte die Bruchlandung nur mit größter Mühe verhindert. Dass es ihm dennoch gelungen war, die Fähre so nah an der alten Landestelle aufzusetzen, erfüllte ihn mit Stolz.
Zielstrebig sprang er zu der Stelle hinüber.
»Was hast du vor?«, fragte Kate und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Sollten wir nicht zuerst die Instrumente ausladen?«
»Gleich«, stieß er zwischen zwei Sprüngen hervor. »Ich habe nur einem alten Herrn etwas versprochen.«
Mit seinem letzten Sprung landete er etwa zwei Meter von der alten Eagle entfernt. Die metallene Oberfläche sah mitgenommen aus. Zahlreiche Mikrometeoriten hatten in den letzten fünfzig Jahren ihre Spuren auf dem Landegestell hinterlassen. Etwa zehn Meter davon entfernt ragte noch immer die US-amerikanische Flagge auf ihrem schmalen Mast in den Himmel.
Storm sprang zu ihr hin, fing sich gekonnt ab und ging auf einem Bein in die Knie. In dieser Haltung drückte die Montur, vor allem der schwere Sauerstofftank, schmerzhaft gegen seinen Rücken. Die metallenen Kuppen seiner Überhandschuhe gruben sich in den Staub. Dieser war härter und fester, als er gedacht hatte.
»Was machst du denn da?«, wollte Kate ungläubig wissen. »Willst du etwa den Flaggenmast ausgraben?«
»Ich hab sie!«, antwortete ihr Storm schließlich. Er keuchte, und der Schweiß lief ihm in seinem Druckanzug in Strömen den Rücken hinab. Es war nicht einfach, das schmale Objekt mit den dick behandschuhten Fingern zu greifen, aber schließlich gelang es ihm.
Triumphierend hielt er es in die Höhe. Im Licht der Sonne leuchtete die Münze wie ein heller Stern.
»Was in aller …?«, stieß Kate hervor.
»Ein Silver Eagle von 1969«, klärte John Storm sie auf. »Neil Armstrong hat ihn seinerzeit hier vergraben, bevor sie die Flagge aufstellten. Damals, als wir uns begegnet waren, hatte er mich gefragt, ob ich ihm die Münze nicht wieder mitbringen könnte, falls ich mal hier oben vorbeikäme.«
Kate Eisner lachte laut auf.
»Man soll es doch nicht für möglich halten … und das hat die NASA damals durchgehen lassen?«
John Storm grinste sie wehmütig an. »Außer Neal, Rick und mir weiß keiner davon. Nur du gehörst jetzt noch zu unserer verschworenen Gemeinschaft.« Dann wurde er ernster und drückte die Münze fester. »Ich wünschte nur, ich könnte sie dir noch persönlich überreichen«, sagte er kaum hörbar zu sich selbst und verharrte mit seinen Gedanken bei dem verstorbenen Astronauten.
Kate hörte von den Worten nichts über ihren Funk. Sie grub ungeduldig die Sohle ihres rechten Schuhs in den Staub.
»Ich fühle mich geehrt als einziges Mädchen in einer Jungenclique! Meinst du, wir haben jetzt etwas Zeit, die Instrumente aus dem Module zu holen und aufzubauen? Ich meine ja nur.«
Ein Rauschen war in Storms Helmfunk zu hören. »…ßenteam, hört ihr mich? Ich habe den Mondschatten verlassen.«
»Ich höre dich laut und deutlich, Rick! Rate mal, was ich in meiner Hand halte …«
»Jetzt sag nicht, die Münze!«, schnappte Richard Burke über das Mikro hörbar nach Luft.
Storm strich andächtig über die geriffelte Kante. »Sie fühlt sich gut an.«
»Dann hat sich die Mission ja schon gelohnt!«, jubelte Burke.
Kate Eisner schrie unterdrückt auf und breitete in gespielter Verzweiflung die Arme aus, dann drehte sie sich um und sprang zur Mondfähre zurück.
»Was hat sie denn?«, wollte Burke wissen.
»Frauen sind eben von der Venus, mein Junge. Sie werden uns Mondfahrer nie verstehen.«

 

Ungläubig schüttelte Kate Eisner auf dem Weg zurück den Kopf, so gut das mit der eng sitzenden Halsmanschette ging. Zwei hochintelligente Männer, so gut ausgebildet für diese Mission wie kaum ein anderer, mit einem analytischen und klaren Verstand – und sie freuten sich über eine alberne Münze …
Kate erreichte die Landefähre und gönnte sich eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Eigentlich müsste sie auf John Storm warten. Zu zweit konnten sie die Geräte viel schneller ausladen. Doch im Augenblick wollte sie sich – und ihm – beweisen, dass sie viel mehr als dieser Kindskopf für solch eine Mission geeignet war.
»Sprachaktivierung an, Code ›Mond-Alpha‹.« Das Sichtglas ihres Helms nahm eine dunklere Tönung an. Dadurch war die schriftliche Erkennung deutlicher zu lesen, die auf dem Head-up-Display des Helmglases sichtbar wurde.
Die Fähre bestätigte die Aktivierung.
»Öffnen der Ladeluke, Ausfahren des Krans«, setzte sie fort und war sichtlich stolz, dass die Kommandoeinheit des Moduls ihre Befehle umsetzte. Sie hatte es auf der Erde Dutzende Male geübt, dennoch sah sie gebannt zu, wie sich die Luke vollkommen lautlos im Mittelsektor der Fähre öffnete.
In derselben Bewegung schob sich auch der drehbare Schwenkarm nach außen. Sein Teleskoparm verlängerte sich, bis er vollkommen ausgefahren war.
Kate schluckte rau. »Container C-1 vorfahren und Magnethaken aktivieren«, gab sie die nächste Anweisung. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
Es dauert quälend lange, bis der Container sichtbar wurde.
»Kran zurück, magnetischen Kontakthaken schließen.« Damit wurde der Container mit dem Schwenkarm verbunden. Dieser zog seine Gelenkstangen ein, bis sein magnetischer Greifer über dem Gegenstück des Behälters war.
Eine grüne Anzeige im HUD zeigte ihr, dass der Kontakt geschlossen war. »Greifer ausfahren, Containerschiene zurücksetzen.« Kates Puls ging schneller. Ohne eine Rückmeldung durch hydraulische oder mechanische Geräusche wirkte der Ablauf wie in einem Simulator.
Der Container ruckte vor und kam in eine leichte Schräglage. Sofort spannte sich das Kabel des Teleskoparms entsprechend, um das Gewicht zu halten. Kate fluchte. Der Container stand kurz davor, sich an der Unterkante zu verhaken.
»Greifarm auf Nullposition einfahren, Kabel straffen.« Sie hoffte, dadurch den Container vorne so weit anzuheben, dass er über die Kante glitt.
»Kate, was soll das?«, wurde sie über ihren Helmfunk unterbrochen. »Du weißt genau, dass wir die Ladung nur zu zweit löschen sollen!«
»Wenn du mit deiner Münze fertig bist, kannst du mir ja helfen«, erwiderte sie spitz. »Ich hab’s gleich. Dieser blöde Container hat sich prompt verhakt – ah, na also!«
Der Behälter, der die doppelte Größe eines Pilotenkoffers hatte, bewegte sich ruckend nach vorne.
»Warte, ich bin gleich da!«, forderte Storm sie auf.
»Geht schon«, kam Kates Antwort. »Greifarm vor, anheben um zehn Grad.«
Die Kommandoeinheit reagierte umgehend. Der Teleskoparm fuhr leicht nach oben und hob dabei den Container mit an. Dieser glitt aus der Ladeluke nach vorne und hing halb in der Luft, als –
»Kate, Vorsicht!«, hörte sie John Storm brüllen. Die Ingenieurin sah nach oben, und in diesem Augenblick ertönte ein schrilles Warnsignal in ihrem Helm. Eine rote Anzeige blinkte wild auf.
Verbindung unterbrochen stand in großen Lettern auf ihrem Helmglas. Kate sah, wie das Trageseil des Greifarms nach oben wegschnappte. Wie in Zeitlupe kippte der Container nach vorne. Unsäglich langsam rutschte er über die Außenhaut des Mondmoduls. Dann prallte er gegen eine Querstrebe und trudelte durch die Luft, genau auf die junge Frau zu.
Kates Verstand weigerte sich, den herabstürzenden Container auf sich zukommen zu sehen. Sie war zu keiner Bewegung fähig und öffnete nur ungläubig den Mund. Dann prallte der Behälter schwer gegen ihre Brust.
Kate Eisner wurde zu Boden gepresst. Die geringe Schwerkraft wirbelte sie herum und schleuderte sie zur Seite. Wie aus unendlich weiter Ferne hörte sie John Storms Stimme. Eine Titanenfaust schien sie in den harten Mondstaub zu drücken und zermalmen zu wollen.
Sie hörte das Blut in ihrem Kopf wie einen Wasserfall dröhnen. Blitze zuckten vor ihren Augen, und ihr Blick verschleierte sich.
»Kate? Kate?«, drang eine Stimme zu ihr durch. Sie spürte, wie jemand neben ihr in den Staub prallte, und fühlte dann die Hand an ihrer Schulter.
»Kann – nicht … atmen«, entfuhr es ihr stoßweise. Ein betäubender, stechender Schmerz durchzog ihre Brust.
»Nicht reden!«, wirkte John Storm auf sie ein. »Dich hat’s schwer erwischt. Verdammt, was sollte das?!«, konnte er sich nicht beherrschen.
»Wollte – dir … zeigen, dass … es – auch – ohne dich …«, löste es sich schwerfällig von ihren Lippen.
»Das brauchst du mir doch nicht zu beweisen!«, brüllte John sie förmlich an. Er beugte sich über ihren Oberkörper. Am Raumanzug der jungen Frau konnte er keine äußere Beschädigung erkennen, doch alles an ihr wies auf schwere innere Verletzungen hin. Trotz der geringeren Schwerkraft wog der Container immer noch mehr als fünfzig Pfund. Er lag halb versunken neben ihr im Staub.
Kate konnte hören, wie belegt John Storms Stimme war. Sie wollte auflachen und ihn beruhigen, doch ein scharfer Schmerz fuhr dabei durch ihren Oberkörper. Hilflos zuckten ihre Arme vor.
»Keine Luft … keine – – Luft …«
»Hör auf zu reden! Wir machen einen Notstart und untersuchen dich in der Versorgungskapsel.« John war bewusst, dass er ihr und sich selbst etwas vormachte. Doch als er spürte, wie sich ihre Hand in seine krallte, war ihm klar, dass sie genau wusste, wie es um sie stand.
»Der – Mars …« Jeder Atemzug wurde zu einer unendlichen Qual. »Ich … werde nie – – zum Mars … kommen -«
John Storm unterdrückte seine Tränen und blickte in Kates schmerzverzerrtes Gesicht. Der Mars. In diesem Augenblick lag er in einem anderen Universum, unendlich weit entfernt …

 

Zum Roman