Prolog
»Was ist denn jetzt los?«
Claude Vlissard blickte sich um und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Doch nicht einmal die Kontrolllichter an den Terminals leuchteten noch auf. Um ihn herum herrschte von einer Sekunde auf die andere vollkommene Schwärze.
Dann flammte ein greller Lichtkegel auf. Vlissard kniff die Augen zusammen und hob die Hand vors Gesicht. Er blinzelte und blickte zwischen den Fingern hindurch auf den Lichtschein.
»Madu?«, fragte er. »Senken Sie bitte die Taschenlampe. Sie blenden mich voll!«
»Oh, entschuldigen Sie«, antwortete seine Kollegin und folgte der Bitte. Vlissard schnaufte und erkannte nun hinter dem Licht wenigstens die Umrisse ihrer Gestalt. Nehma Madu arbeitete als Programmiererin wie er an der Entschlüsselung der Geheimnisse der unterirdischen Station am Südpol des Mondes.
»Wieso haben Sie eigentlich eine Taschenlampe griffbereit?«, fragte Vlissard.
»Gewohnheit, befürchte ich«, antwortete die Pakistanerin und lachte unterdrückt auf. »Wenn Sie aus einer Gegend stammen, in der Stromsperren an der Tagesordnung sind, dann lernen Sie, eine bei sich zu tragen, für den Fall der Fälle.«
Claude Vlissard brummte. Er versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen, doch außer dem schmalen Streifen, den die Taschenlampe erhellte, lag alles hinter Schatten verborgen.
»Nakamura?«, fragte er mit lauter Stimme und wartete auf eine Antwort. Die automatische Sprechfunkverbindung jedoch schwieg. Nicht einmal ein Rauschen oder Knacken war zu hören. Vlissard rief den Mechatroniker ein weiteres Mal. Der Japaner war neben ihnen beiden der Einzige, der sich derzeit auf der Station aufhielt.
Der einzige Mensch, verbesserte sich Vlissard.
Über die vierte … Person wollte er nicht nachdenken. Er hatte sich in all den Wochen nicht an die Anwesenheit des Bewahrers gewöhnen können. Ganz zu schweigen davon, dass er überhaupt existierte. Oder funktionierte. Ein über achttausend Jahre alter Roboter einer außerirdischen Zivilisation war etwas, das er bis jetzt nicht verdaut hatte.
Und das, obwohl er seit bald einem Jahr auf dem Mond wohnte und alleine auf Dark Side One mehr gesehen hatte, als es nach heutigem technischen Verständnis geben dürfte …
»Wissen Sie, wo sich die Funkkonsole befindet?«, fragte der Franzose.
Der Lichtschein schwenkte und richtete sich auf den länglichen Kasten, der auf einem Pult stand. Nehma Madu ging auf ihn zu und beugte sich über ihn.
»Sie scheint vollkommen intakt zu sein«, sagte sie nach wenigen Augenblicken. »Alle Anzeigen leuchten auf. Wir müssten eigentlich eine ungestörte Funkverbindung haben.«
Vlissard murmelte einen Fluch in seiner Muttersprache.
Er wusste nicht einmal, wo sich Nakamura derzeit befand. Der Mechatroniker hatte einen Kontrollgang zur Wartung machen wollen und konnte sich weiß Gott in welchem Sektor befinden. Selbst wenn der Bewahrer nur einen kleinen Teil der unterirdischen Station für sie zugänglich gemacht hatte, reichte es aus, wenn er sich zwei Schleusen weiter von ihnen entfernt befand und von ihnen abgeschnitten war.
Der Programmierer richtete den Blick zur Decke und zählte die Sekunden, die vergingen, ohne dass sich etwas tat. Die Lichter blieben nach wie vor erloschen.
»Nichts«, stellte er fest. »Wissen Sie, was das heißt?«
»Ich kann es nur vermuten«, antwortete Madu. »Entweder haben wir einen allgemeinen Systemausfall oder … jemand hat uns absichtlich von der Außenwelt abgeschnitten.«
Vlissard nickte und dachte im ersten Moment nicht daran, ob seine Kollegin es sehen konnte.
»Exactement«, fügte er an. »Und das ist …«
Das Zischen einer Schleuse war zu hören und danach dumpfe schwere Schritte. Die Bodenplatten vibrierten im selben Takt. Vlissard spürte, wie sich die Härchen an seinem Nacken aufrichteten. Er kannte das Geräusch nur zu gut. Und ihm war jedes Mal wohler, wenn er es nicht hörte oder es sich entfernte.
Doch nun kam es direkt auf ihn zu.
»Leuchten Sie auf den Gang, Madu!«, forderte er seine Kollegin auf.
Der Lichtfinger wanderte über die Terminals und warf dabei kantige Schatten an die Wand. Er strahlte durch die Glasscheiben in den Gang hinaus. In diesem Augenblick schälten sich die rot-blau leuchtenden Augen aus der Dunkelheit.
Nehma Madu hatte sie offenbar genauso gesehen wie Vlissard, denn sie richtete ihre Taschenlampe auf das stählerne Ungetüm, das sich mit langsamen Schritten auf ihre Kammer zubewegte.
»Er wird uns doch helfen?«, fragte die Kryptologin.
Der Franzose wusste nicht, was er antworten sollte. Er folgte mit den Augen nur jeder Bewegung des Roboters. Ein Teil von ihm hoffte, dass der Koloss an der Kammer vorbei ging, als hätte er die beiden Menschen nicht bemerkt. Er blieb jedoch direkt vor der Schleusentür stehen. Sie öffnete sich lautlos, und abgestandene Luft drang ein.
Der Bewahrer blieb im Türrahmen stehen.
Claude Vlissard schluckte. Er spürte, wie seine Handflächen anfingen, zu schwitzen.
»Was ist geschehen?«, fragte er mit krächzender Stimme. »Gab es einen Stromausfall?«
»Diese Anlage arbeitet wie vorgesehen, claudevlissard«, antwortete der Bewahrer mit seiner seelenlosen Stimme. Der totenkopfförmige Schädel richtete sich zuerst auf ihn, dann auf Nehma Madu.
»Eine weibliche und eine männliche Einheit eurer Spezies. Ihr werdet mich begleiten.«
Der Franzose glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Was soll das heißen?«, stieß er aus. »Nichts da! Ich werde nicht mitkommen, bevor du uns nicht sagst, was geschehen ist! Ich verlang…«
Der Arm schoss so schnell vor, dass Vlissard nicht mehr ausweichen konnte. Metallene Finger legten sich wie eine Schraubzwinge um seinen Hals und hoben ihn mühelos an. Er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor und strampelte in der Luft. Die Augen des Bewahrers richteten sich auf ihn. Sie glommen nun rötlich auf.
»Was du verlangst, ist irrelevant. Widerstand ist in meiner Programmierung nicht vorgesehen, Preorianer«, antwortete der Roboter mit emotionsloser Stimme.
Vlissard keuchte und legte seine Hände um die stählernen Unterarme. Tief in seinem Verstand wusste er, wie sinnlos es war, die metallene Klaue abschütteln zu wollen, doch alles in ihm weigerte sich dagegen, kampflos aufzugeben.
Das Blut rauschte in seinen Ohren. Jeder gequälte Atemzug brannte in seinem Hals. Seine Bewegungen wurden mit jedem verstreichenden Moment fahriger und schwächer. In seinem Rücken hörte er Nehma Madu aufschreien, dann verlor er das Bewusstsein.
1.
Dark Side One, Mond
»Was fällt Ihnen ein, solch eine Entscheidung zu treffen, ohne sich vorher mit mir abzusprechen? Damit haben Sie Ihre Kompetenzen eindeutig überschritten!«
Magnus van Scotts Faust schlug mit den Knöcheln auf die Tischplatte. Seine Mundwinkel zuckten. Er schloss die Augen und wandte sich ab. Das Schwindelgefühl, das ihn seit seiner Landung begleitete, drohte übermächtig zu werden. Es war erst wenige Stunden her, dass er auf Dark Side One angekommen war. Entgegen seinen eigenen Vorschriften hatte er nicht gewartet, bis sein Körper die Nachwirkungen der Stasis überwand, in der er sich während des Flugs zum Mond befunden hatte, sondern war umgehend in sein Büro geeilt.
Nicht allerdings, ohne zuvor den Mann zu sich zu bitten, der nun auf der anderen Seite des Schreibtischs stand. Nicht zu bitten, musste van Scott sich selbst korrigieren. Herzubeordern.
»Sie sind der Einzige, zu dem ich in den letzten Wochen und Monaten uneingeschränkt Vertrauen hatte, John«, flüsterte er mehr zu sich selbst, als dass er den Mann ansprach. Oder dabei ansah.
»Professor, ich …«, setzte John Storm an.
Magnus van Scott hob die linke Hand an und winkte ab.
»Nicht. Ich will nichts davon hören«, entgegnete er. »Wissen Sie, was das Schlimmste dabei ist?« Er wartete keine Antwort ab. »Ich gehe davon aus, Sie inzwischen so gut zu kennen, um zu wissen, dass Sie nicht unüberlegt gehandelt haben. Oder bewusst fahrlässig. Dass Sie Ihre guten Gründe hatten …«
Er merkte, wie seine Beine weich wurden und musste sich mit beiden Händen am Schreibtisch abstützen. Ein leises Stöhnen löste sich von den Lippen des Wissenschaftlers.
»Sir, lassen Sie uns in ein paar Stunden weiterreden!«, warf John Storm ein und machte einen Schritt auf van Scott zu, um ihn am Arm zu stützen. »Sie müssen sich erst von den Strapazen des Fluges erholen!«
Magnus van Scott lächelte dünn und ließ zu, dass ihm der Pilot in seinen Sessel half. »Dafür hatte ich Sie gebraucht, John.« Er atmete tief durch. »An meiner Seite.«
»Soll ich Doktor Kurtz rufen?«, fragte Storm.
Van Scott verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Damit sie mich zusammenstauchen und auf ihre Station stecken kann? Darauf kann ich verzichten. Nein, das wird nicht nötig sein.«
Er öffnete ein Schubfach am Schreibtisch und entnahm eine schlanke Metallschatulle. Eingelassen in Vertiefungen steckten fünf Ampullen mit Schraubverschluss, von denen drei leer waren. Van Scott löste mit zitternden Fingern einen der verbliebenen gefüllten Glasbehälter und zog den Gummipropfen ab. Er leerte die Ampulle in einem Zug und fühlte, wie die Schwäche innerhalb von Sekunden in seinem Körper abebbte.
»Professor, was ist das?«, fragte John Storm mit einem lauernden Unterton.
»Eine Entwicklung unseres biochemischen Labors«, erklärte der Wissenschaftler nun mit deutlich kräftigerer Stimme. »Die Stasis für die Mondflüge ist für den Körper genauso eine Anstrengung wie der Wiedereintritt nach einem Sprung mit der Hyperion. Zudem verlieren wir dabei zu viel kostbare Zeit. Zeit, die wir vielleicht benötigen, um schnell reagieren zu können!«
John Storm griff nach der Ampulle und hob sie gegen das Deckenlicht. Auf der Glasinnenseite waren noch Reste einer durchsichtigen Flüssigkeit auszumachen. »Ich gehe nicht davon aus, dass Doktor Kurtz davon Kenntnis hat oder es von ihr freigegeben wurde? Sonst wäre das Mittel längst im Einsatz«, stellte er mehr fest als dass er fragte.
»Irene ist – so sehr ich sie auch schätze – nicht die einzige Medizinerin an Bord dieser Station«, antwortete van Scott. »Und trotz ihrer Begabung ist sie nicht in allen Wissensgebieten versiert, gerade auch im Bereich der Pharmakologie. Die wissenschaftlichen Abteilungen dieser Station widmen sich anderen Aufgaben als nur dem Bau der Hyperion, John. Der Flug zu den Sternen ist nicht der einzige Traum, den ich verfolge!«
Einen Augenblick lang wirkte es so, als wollte er weitersprechen, doch dann sah er den Mann vor sich an und machte mit dem Zeigefinger eine tadelnde Geste.
»Was mich enttäuscht, ist Ihre Eigenmächtigkeit«, sagte er. »Die Selbstverständlichkeit, mit der Sie Entscheidungen über meinen Kopf hinweg treffen!«
Storm verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sir, bei allem Respekt – ich musste die Verantwortung übernehmen, um …«
»Verantwortung? Worüber?«, bellte van Scott. »Sie sind der Pilot meines Raumschiffs! Ihre Verantwortung beginnt beim Start und endet bei der Landung. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie es in einem Stück nach Hause bringen, ebenso wie die Crew. Und das ist alles!«
Er musste mit sich ringen, um die Erregung, die sich in seinem Körper breit machte, nicht übermächtig werden zu lassen. An seinem Halskragen setzte ein rasch zunehmender Juckreiz ein. Am liebsten hätte er einen Finger unter den Stoff geschoben, um sich zu kratzen.
»Sie sind mein Testpilot, John«, presste er hervor. »Nur-mein-Pilot! Maßen Sie sich nicht an, für mich oder meine Projekte oder Dark Side One eine Verantwortung zu übernehmen, zu der ich Sie nicht befugt habe!«
Er seufzte und rieb sich über die Augenbrauen. Die aufputschende Wirkung des Mittels ließ bereits nach. Viel schneller als erhofft. Er fühlte eine zunehmende Müdigkeit in sich. Van Scott warf einen Blick auf den Panoramamonitor, der eine Längsseite seines Büros einrahmte. Auf ihm wurde ein Livebild von der Mondoberfläche eingeblendet. Nur auf den höchsten Berggipfeln schimmerte noch der Schein der Sonne. Bald würde die Umgebung in vollkommene Dunkelheit getaucht sein.
»Ich konnte die Crew der Ares doch nicht auf dem Mars zurücklassen!«, unterbrachen ihn Storms Worte in seinen Betrachtungen. »Das war einmal meine Mission. Ich habe vor einem Jahr noch mit diesen Männern und Frauen gemeinsam trainiert!«
Van Scott lächelte dünn. »Ja, es ist schon eine Ironie des Schicksals, nicht wahr? Hätte die NASA Sie nicht entlassen, hätte ich Sie nicht eingestellt. Und dann wäre vermutlich niemand da gewesen, der wiederum Sie gerettet hätte.«
Er schüttelte mit einem belustigt wirkenden Gesichtsausdruck den Kopf.
»Aber dann wäre auch niemand hier gewesen, der versehentlich eine jahrtausendealte Station aktiviert hätte. Und es wäre nie ein Signal zum Mars gesendet worden, das ein havariertes, außerirdisches Wrack erreicht.«
Der Wissenschaftler beschrieb mit den Händen Linien in der Luft, als zeichne er geometrische Muster nach.
»Sehen Sie es nicht, John? Jede Entscheidung hat eine Konsequenz zur Folge. Und je größer die Tragweite dieser Entscheidung, desto unabsehbarer kann die Konsequenz werden.« Er ließ die Hände sinken. »Und ich als Wissenschaftler muss zum ersten Mal eingestehen, dass ich keine Antwort darauf habe, wie ich mit den Konsequenzen umgehen soll. Es ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Erschreckenden Unbekannten, John.«
Er hielt sich an der Kante seines Schreibtischs fest.
»Eine Entscheidung habe ich nun getroffen. Die Hyperion wird bis auf Weiteres nicht mehr fliegen, John. Solche Abenteuer, völlig losgelöst von der Erde, können wir uns zurzeit nicht leisten. Es gibt zu viele ungelöste Probleme. Hinsichtlich der Crew der Ares, der NASA, Homeland Security, das mich am liebsten unter Hausarrest stellen würde und erst recht in Bezug auf das …«, er wies mit den Fingern über die Schulter, »… was sich am Südpol befindet.«
John Storms Körper straffte sich.
»Möchten Sie, dass ich meinen Dienst quittiere, Sir?«
Magnus van Scott sah ihn verwundert an. »Quitt…? Ich bitte Sie! Wir sind hier nicht bei der Air Force, John.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich will auf einen erfahrenen Piloten wie Sie nicht verzichten. Und mir ist Ihre Einschätzung nach wie vor von größtem Wert. Aber, es stimmt schon – im Augenblick habe ich keine Verwendung mehr für Sie auf Dark Side One. Die anfallenden Testflüge wie mit der XG-2 kann auch Mister Burke übernehmen.«
Der Wissenschaftler legte die Handflächen aneinander.
»Es sind jetzt noch zweiundsiebzig Tage, bis die NASA mit der Rückkehr der Astronauten rechnet. In meinem Interesse wäre es, dass sie jemand auf der Erde in Empfang nimmt und begleitet. Dafür sind Sie der richtige Mann, John. Gerade schon – wie Sie selbst sagten –, weil es eigentlich einmal Ihre Mission gewesen war. Zu Ihnen haben sie wohl am ehesten Vertrauen.«
John verzog die Lippen. »Bei McAllister wäre ich mir da nicht so sicher. Und Li Ning geht davon aus, dass das ein abgekartetes Spiel der NASA ist. Von ›Vertrauen‹ möchte ich also bei beiden nicht sprechen.«
Magnus van Scott zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sei. Unabhängig davon werde ich mit Athena absprechen, welche Projekte ein Mann mit Ihren Fähigkeiten bei ›Scott Enterprises‹ betreuen kann. ›Space iX‹ ist im privaten Raumfahrtprogramm ein beachtlicher Mitbewerber geworden. Sie werden auf der Erde also einiges zu tun haben. Langweilig wird Ihnen nicht werden.«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und nickte dem Mann vor sich mit einem harten Ausdruck im Gesicht an.
»Das Gespräch ist beendet, John.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein! Entweder nimmt er dich auf den Arm oder du hast dich verhört!«
Richard Burke sah seinen Freund entgeistert an. Dieser erwiderte den Blick und reckte das Kinn vor.
»Danach hat es sich nicht angehört, mein Alter«, antwortete John Storm. Er schwenkte das Glas mit dem synthetisierten Bourbon und betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit, dann setzte er es an und leerte es in einem Zug. John seufzte. Den fermentierten Algen fehlte nach wie vor das wohltuende Brennen eines richtigen Drinks … Er ließ den Blick schweifen und sah durch die Sichtscheiben in das Dunkel der Mondnacht.
Das Stardust Café war so errichtet worden, dass man eine freie Sicht auf die Landeflächen hatte, auf denen die Mondzubringerraketen aufsetzten. Es war einer der wenigen oberirdischen Bauten, die einen Blick auf die kalte Landschaft erlaubten. Das Skelett der mobilen Rampe, über die die Raketen be- und entladen wurden, zeichnete sich als Schattenriss vor dem Sternenhimmel ab. Der größte Teil von Dark Side One befand sich vor Meteoren geschützt bis zu zweihundert Meter tief unter der Oberfläche. Vor allem der unterirdische Hangar, in dem die Hyperion nun offenbar auf unbestimmte Zeit auf neue Einsätze warten musste.
»Ein Gutes hat es, wenn ich wieder zur Erde komme«, meinte er, nachdem er das Glas abgestellt hatte. »Ich kann wieder was Anständiges essen und trinken!«
»Du hast eine seltsame Art von Humor«, brummte Burke. »Mir ist alles andere als nach Lachen zumute.« Er ergriff Johns Unterarm. »Hör mal, lass mich mit ihm reden! Vielleicht sind das noch Nachwirkungen vom Transitflug. Oder er hat das im Affekt gesagt und überhaupt nicht so gemeint. Und wenn doch«, er senkte seine Stimme, »dann kündige ich meinen Dienst bei ihm und fliege mit dir zurück.«
John Storm bedachte seinen Freund mit einem ernsten Blick.
»Das wirst du schön bleiben lassen!«, erwiderte er mit scharfer Stimme. »Es geht hier um meine Karriere, nicht um deine. Und vor allem brauche ich dich hier oben. Sollte hier irgendetwas vorfallen, will ich, dass wenigstens einer von uns beiden hier ist.«
»Vorfallen?«, wiederholte Burke. »Womit rechnest du?«
Storm zuckte mit den Schultern. »Mit nichts Bestimmtem. Aber ich befürchte derzeit bei van Scott, dass er nicht jede Entscheidung vernünftig abwägen wird.«
Richard Burke verzog den Mund. »Na, toll. Und da soll ich dann den Wachhund spielen?«
John öffnete den Mund zu einer Erwiderung, als sein Communicator anschlug. Er nahm ihn aus der Tasche am Gürtel und blickte aufs Display.
»Was gibt’s, Kieron?«, fragte er.
»Können wir ungestört reden?«, klang es aus dem Lautsprecher.
Der Pilot runzelte die Stirn und blickte sich um. »Rick ist bei mir. Wir sitzen im Stardust, die Nebentische um uns herum sind leer«, antwortete er.
»Du wolltest doch Rückmeldung, sobald das Team in der Station am Südpol etwas Ungewöhnliches meldet?«, fragte der junge Funker. »Mir ist nach wie vor nicht wohl dabei, dass wir uns in den Kanal einklinken, ohne dass jemand was davon weiß.«
»Was hast du gehört?«, fragte John und überging Kierons Bedenken.
»Vielleicht machst du dich besser auf den Weg zu Hangar Zwei. Nakamura hat so hektisch geredet, dass ich kaum die Hälfte verstanden habe.«
Storm und Burke wechselten einen Blick. Sein Freund runzelte die Stirn und beugte sich über den Communicator. »Und was hast du verstanden?«, fragte Burke.
»Er hat mit der Falcon einen Alarmstart hinlegen müssen und fordert ein Ärzteteam an. Die beiden Programmierer sind bewusstlos, und dieser Bewahrer hat die Station gesperrt«, antwortete Kieron hastig.
»Was?!«, entfuhr es Rick so laut, dass sich ein paar Tische entfernt mehrere der Anwesenden zu ihnen umdrehten. John warf ihm einen scharfen Blick zu. »Hat er sonst was erzählt?«, raunte er in das Mikrofon.
»Wenn, dann habe ich es entweder nicht verstanden – die Verbindung ist übelst, sie wird ununterbrochen von Störimpulsen überlagert – oder ich habe es verpasst.«
»Okay, halt mich auf dem Laufenden, falls sich was Neues ergibt«, bat ihn Storm.
»Geht klar«, antwortete der Funker und verabschiedete sich.
»Meinst du, das hat etwas mit deinem … kleinen Fund auf dem Mars zu tun? Hast du van Scott überhaupt davon erzählt?«, unterbrach ihn Burke in seinen Gedanken.
Storm sah ihn unverwandt an, ohne etwas zu antworten.
Burke blickte seinen Freund ungläubig an, blähte die Backen auf und stieß den Atem aus.
»Und du wunderst dich, dass er sauer auf dich ist? Ihr vertraut euch gerade beide nicht mehr sonderlich, wenn ich das so sehe.« Er rückte seinen Stuhl zurecht und gab dabei einen unterdrückten Laut von sich. Ihm war deutlich anzusehen, dass er Schmerzen hatte.
»Wie geht es deinen Rippen?«, fragte John mitfühlend.
Er hatte noch immer das Bild vor Augen, wie der Bewahrer seinen Freund einer Puppe gleich durch die Luft geschleudert hatte, als dieser nicht mehr gemacht hatte, als nach den Anzeigewerten für die geretteten Erinnerungsmuster der Außerirdischen zu sehen. Glücklicherweise schien Rick nur einige Prellungen davongezogen zu haben. Und das, obwohl er erst Stunden zuvor auf dem Mars verschüttet worden war und sich dabei mehrere Rippen gebrochen hatte.
Es war das erste Mal gewesen, dass der Roboter gewaltsam gegen sie vorgegangen war. Und sollte sich das, was Kieron ihnen berichtete hatte, bewahrheiten, schien sich sein Verhalten gegenüber Menschen grundsätzlich geändert zu haben.
»Geht schon«, stöhnte Burke. »Tut nur weh, wenn ich mich bewege. Also ständig. Dafür darf ich dieses formschöne Korsett noch gut drei Wochen tragen. Schlimmer als die Schmerzen war der Anschiss von Dr. Kurtz. Und die stundenlange Untersuchung, die danach folgte. Wenn du jemals eine Frau in deinem Leben haben willst, die alles von dir weiß, dann sollte es nicht gerade deine behandelnde Ärztin sein!«
John überging die flapsige Bemerkung. Er stand auf und gab seinem Freund ein Handzeichen, ihm zu folgen. Mit schnellen Schritten verließen sie das Stardust.
Er dachte angesprengt nach. Seit diesem Vorfall hatten sie die Station nicht mehr betreten. Jede Unternehmung musste auf Anweisung van Scotts durch Sicherheitschef Ed Garrisson genehmigt werden, seitdem sich die Crew der Ares auf der Mondstation aufhielt. Der Wissenschaftler hatte dadurch deutlich gemacht, dass er seinem Piloten keine Eigenmächtigkeiten mehr durchgehen ließ. Ausschließlich ausgewählte Programmierer und Techniker erhielten Zugang.
Doch selbst wenn er sie betreten dürfte, konnte er nicht einmal wissen, ob er Antworten auf all die Fragen erhalten würde, die ihm unter den Nägeln brannten. Über all das, was er in den kurzen Gesprächen mit den Träumenden nur in Bruchstücken erfahren hatte …
2.
Hangar Zwei war über einen Kilometer vom Standort des Cafés im mittleren Sektor entfernt, und so komfortabel Dark Side One inzwischen eingerichtet war, fehlte es nach wie vor an einem Transportmittel, um längere Entfernungen schnell zu überbrücken. Ihnen blieb wie allen anderen nichts übrig, als sie zu Fuß zurückzulegen.
Sie bogen in den Zentralkorridor ein und stießen beinahe mit einem Ärzteteam zusammen, das von Irene Kurtz angeführt wurde. Zwei der Sanitäter schoben Fahrtragen vor sich her, auf denen sie ihre Ausrüstung abgelegt hatten.
»John? Woher …?«, stieß die Ärztin aus, als sie feststellte, dass die beiden Piloten ihr folgten. Sie winkte ab und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Hangar Zwei?«, fragte sie nach.
Storm nickte.
»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte er.
»Ich denke mal, nicht mehr als Sie«, antwortete die Ärztin kurzatmig. Trotz der geringeren Gravitation auf Dark Side One schien ihr dieses Lauftempo zuzusetzen. Sie wedelte mit den Armen und stieß hektische Rufe aus, wenn die Menschen vor ihr nicht schnell genug Platz machten.
Keine fünf Minuten später erreichten sie das offen stehende Hangarschott. Im Hintergrund konnte John sehen, wie eine Falcon über die versenkbare Landefläche herabgelassen wurde. Das schrille Pfeifen hydraulischer Kolben durchzog die Halle und überlagerte die Rufe von Technikern, die darauf warteten, dass die Hebebühne den Hangarboden erreichte. Gut zwanzig Meter über ihnen erstreckte sich das dunkle Gewölbe des Mondgesteins.
»Moment! Sie haben keine Befugnis, den Hangar zu betreten!«, übertönte eine Stimme das Durcheinander.
John hielt mitten im Schritt inne und sah in das ernste Gesicht von Ed Garrisson. Der Leiter der Sicherheitsableitung baute sich vor ihm auf, beide Hände an den Koppelgurt gelegt. Sein Auftreten ließ keinen Zweifel aufkommen, ob er sich an van Scotts Anweisungen halten würde. Umso mehr, als sich ein Mann und eine Frau hinter ihn stellten, die sich durch ihre Uniform als seine Mitarbeiter im Sicherheitsdienst auswiesen.
Storm stellten sich unwillkürlich die Nackenhärchen auf. In all den Monaten hatten sich die Angehörigen der Sicherheitsabteilung im Hintergrund gehalten. Er war ihnen kaum begegnet und hatte sie bei seiner Arbeit so gut wie nie wahrgenommen. Nun allerdings schien van Scott auf der Mondstation neue Bestimmungen eingeführt zu haben, ohne die Besatzung davon in Kenntnis gesetzt zu haben.
»Verdammt, Garrisson, was soll das?«, brauste Rick neben ihm auf und wollte weitergehen. Er erhielt mit der flachen Hand einen Schlag vor die Brust, der ihn einen Schritt rückwärts machen ließ. Burke keuchte.
»Nur Techniker und Ärzte«, erklärte der Sicherheitsleiter mit einem Klirren in der Stimme. »Und mir wäre neu, dass Sie – Sie beide … – eines davon wären.« Sein Blick wechselte zwischen den beiden Piloten.
Er winkte die Sanitäter durch.
Storm sah, wie ihm Irene Kurtz sichtlich irritiert einen schnellen Blick über die Schulter zuwarf und dann ihrem Team folgte. Er erwiderte den herausfordernden Gesichtsausdruck des Sicherheitschefs und zuckte schließlich mit den Schultern. »Komm, Alter«, meinte er zu seinem Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. Am Funkeln in dessen Augen konnte er deutlich ablesen, dass dieser gar nicht daran dachte, sich so schnell wieder zu beruhigen.
Er bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, zu folgen. Rick grummelte den ganzen Weg, bis sie den Hangarbereich verlassen hatten und in einer kleinen Lobby standen.
»Langsam wird mir klar, was du meinst«, entfuhr es Burke. »Was geht denn hier ab? Das sind ja Sicherheitsmaßnahmen wie im kalten Krieg!«
»Vergiss nicht, dass wir uns auf der Erde mitten in einem neuen befinden, auch wenn das den meisten noch gar nicht bewusst ist«, antwortete Storm.
»Ja, aber doch nicht hier auf dem Mond!«, rief sein Freund aus und gestikulierte mit den Armen.
John Storm holte seinen Communicator hervor.
»Siren? Textnachricht an Kenchi Nakamura«, sagte er leise, obwohl sich außer Burke niemand in seiner Nähe befand, der die Worte hätte belauschen können.
»Sehr gerne, John«, meldete sich die synthetische Frauenstimme.
»Muss dich sprechen. Triff mich vor dem Hangar. Hoffe, Garrisson hält dich nicht auf. Sehe ich dich in zehn Minuten nicht, melde ich mich später«, gab er die Nachricht durch. Er sah, wie seine Worte auf dem Display als Text aufgezeichnet wurden. »Stumme Benachrichtigung«, fügte er an.
Siren bestätigte, und das Icon für die übermittelte Nachricht leuchtete auf. John steckte den Communicator weg.
»Und was jetzt?«, fragte Rick.
»Jetzt warten wir«, antwortete John und stützte sich mit den Händen auf das verchromte Geländer.
Die zehn Minuten waren fast verstrichen, als im Hangartunnel das Geräusch schneller Schritte zu hören war. Storm drehte sich um und sah die schmächtige Gestalt des Japaners näher kommen. Nakamura reichte zuerst ihm, dann Burke zur Begrüßung die Hand.
»Hi! Tut mir echt leid«, stieß der Mechatroniker aus. »Zuerst wollte mich die Ärztin durchchecken, und dann wollten die von der Sicherheit mich nicht rauslassen. Ich habe nur gehen dürfen, weil ich beiden hoch und heilig versprechen musste, bei ihnen gleich vorbeizuschauen.«
»Lass uns lieber im Gehen reden, bevor es jemandem da drin noch in den Sinn kommt, dir nachzulaufen«, antwortete John. Die drei Männer suchten sich eine Passage aus, in der sich niemand aufhielt, und verlangsamten ihren Schritt.
»Ich kann mir schon denken, warum du mich sprechen wolltest. Aber ich werde dir wohl nicht mehr sagen können als nachher Garrisson«, setzte der Japaner an.
»Das ist schon in Ordnung«, antwortete Storm. »Was ist überhaupt geschehen?«
Nakamura zuckte heftig mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung! Wir haben unsere Schicht wie immer aufgenommen, und plötzlich war der Strom weg. Alles zappenduster. Da ich meinen Kontrollgang gemacht habe, um die Maschinen auf mögliche Störungen zu überprüfen, hatte ich meine Infrarotbrille dabei. Mit der konnte ich mich orientieren. Und plötzlich sehe ich ihn …«
»Verdammt, Kenchi, mach’s nicht so spannend!«, brachte Burke hervor.
»Den Bewahrer, meine ich. Wen sonst? Unter seinen Armen trug er Vlissard und Madu. Die beiden hingen leblos in seinem Griff, wie Puppen«, er stellte es mit Gesten nach. »Er ist in einen Bereich abgebogen, zu dem wir keinen Zugang haben. Und dann ist er durch eine Schleuse verschwunden.«
»Und was hast du gemacht?«, fragte Burke.
»Was wohl? Geflucht und abgewartet. Ich konnte ihm ja schlecht nach. Ich hatte eine Heidenangst, was nun passieren würde! So hat der sich schließlich noch nie verhalten.«
»Was ist dann passiert?«, fragte Storm. Das mit Burke war also kein einmaliger Zwischenfall gewesen. Das Überspielen der außerirdischen Träume musste einen Prozess in Gang gesetzt haben, auf den er sich keinen Reim machen konnte.
»Es ist gut eine halbe Stunde vergangen, dann ging die Schleuse wieder auf, hinter der er verschwunden war, noch immer die beiden Programmierer unterm Arm. Und dann wendet er sich mir zu. Er wusste offenbar die ganze Zeit, dass ich da gewesen war!«
Nakamura rieb sich den Nacken. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab.
»Er befahl mir, ihm zum Hangar zu folgen, dort, wo wir die Falcon geparkt haben. Da hat er Vlissard und Madu abgelegt und gab mir fünf Minuten, die Station zu verlassen. Ich hab nicht nachgefragt, was passieren würde, wenn ich länger bräuchte, sondern mich beeilt, die beiden an Bord zu bringen.«
»Was ist mit ihnen?«, wollte Storm wissen.
Der Japaner schüttelte den Kopf.
»Sie sind bisher nicht aufgewacht. Sie sahen etwas mitgenommen aus, aber außer ein paar Schrammen habe ich bei denen nichts feststellen können.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen seines Overalls und sah die beiden Piloten an. »Könnt ihr euch erklären, was da passiert ist? Hat der sich bei eurem Besuch letztens auch so komisch verhalten? Du wolltest ihn ja extra sprechen«, wandte er sich an John.
»Er hat sich ganz seiner Programmierung entsprechend verhalten«, meinte dieser und verzog den Mund. Dabei warf er Richard Burke einen warnenden Blick zu.
»Ja, ganz der alte Bewahrer …«, ergänzte dieser betont flapsig.
Nakamuras Communicator schlug an. Er warf einen Blick aufs Display.
»Die medizinische Abteilung. Die lassen mich echt nicht zur Ruhe kommen. Okay, Jungs, ich muss!«
Er verabschiedete sich von den beiden Piloten und beeilte sich, zum Hauptgebäudetrakt zu kommen.
Burke sah ihm nach, bevor er sich seinem Freund zuwandte.
»Kannst du dir einen Reim drauf machen?«, fragte er. »Hat der Bewahrer die Programmierer nun angegriffen? Und wenn ja, wozu? Getötet hat er sie zum Glück ja nicht. Und warum schmeißt er die Crew dann aus der Station?«
John Storm legte die Handflächen aneinander.
»Das sind genau die Fragen, die mich auch beschäftigen«, entgegnete er. »Was zählt ist, dass der Bewahrer den Zugang zur Station versperrt hat. Und das wird er nicht ohne Grund getan haben. Das heißt, nicht ohne Anweisung.«
Burke pfiff leise zwischen den Zähnen hindurch.
»Das gefällt mir gar nicht, was du da andeuten willst«, meinte er.
Storm schüttelte den Kopf.
»Mir ist bei dem Gedanken auch alles andere als wohl, mein Alter …«
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