„Der Jahrtausend-Traum“ – Leseprobe

 

1.

Mars, Juli 2021

»Wiederhol das noch mal!«, rief Clifford McAllister in sein Helmmikrofon. Nur einen Moment später winkte er ab, obwohl niemand in der Nähe war, der die Geste hätte sehen können.
»Spar dir die Mühe«, ergänzte er. »Ich mache mich auf den Weg zurück zur Basisstation. Und informier Commander Ning. Ich möchte sie dabei haben. Nicht, dass sie sich nachher beschwert, wir würden Informationen zurückhalten.«
›In Ordnung, Cliff‹, klang die Stimme von Jordan Ordache überlagert von Störgeräuschen aus dem Mikrofon. ›Ende und aus.‹
Commander McAllister bestätigte und blickte nach oben. Noch vor wenigen Minuten war der gesamte Himmel vollkommen klar gewesen. Nun jedoch ragten am Horizont gewaltige ockerfarbene Wolkentürme kilometerweit in die Höhe. Es würde keine zwei Stunden mehr dauern, bis sie seinen Standort erreicht hatten.
Nach fünf Monaten auf dem Mars bekam McAllister ein Gespür dafür, wann der nächste Sandsturm bevorstand. Der letzte hatte über eine Woche gewütet und ihre Kommunikation mit der Erde vollständig lahm gelegt. Sie hatten weder die US-amerikanische noch die chinesische Bodenstelle erreicht.
McAllister machte einen einzelnen Schritt nach vorne. Er hatte es sich angewöhnt, seine Bewegungen durch diesen einen Schritt auf die Schwerkraft des Mars einzustellen. Die ersten Tage war er fortlaufend gestolpert und hatte es nur der robusten Verarbeitung des Raumanzugs zu verdanken, dass seine Stürze ohne schlimmere Folgen geblieben waren.
Nur sein Selbstbewusstsein hatte darunter gelitten, denn vor allem die beiden chinesischen Mitglieder des Teams gingen mit der geringeren Schwerkraft wie selbstverständlich um. Mochte der Teufel wissen, wo sie das trainiert haben, dachte McAllister und hielt sich an der Kopfstütze des Fahrzeugs fest, das direkt vor ihm stand.
Der Mars-Rover war kaum mehr als eine nackte Karosserie mit Sitzgelegenheiten für zwei Personen – aber er erlaubte wenigstens längere Erkundungen entlang des Plateaus, auf dem das Modul der Ares I gelandet war.
Hier am Valles Marineris war die Marsoberfläche von zahlreichen Canyons und Furchen durchzogen, die an ausgetrocknete Flussläufe erinnerten. Bislang hatten ihre Probebohrungen allerdings noch keine befriedigenden Hinweise auf unterirdische Wasserreservoirs ergeben. Nur wenige Zentimeter unter der staubbedeckten Oberfläche lagen an zahlreichen Stellen vereiste Flächen, die sich mitunter über mehrere hundert Quadratkilometer erstreckten. Doch es war illusorisch zu glauben, man könne diese für eine Bewässerung des Mars effektiv nutzen.
Der Commander wusste selbst nicht, womit er rechnen sollte. Ihm war stets unwohl dabei gewesen, wenn man allzu euphorische Hoffnungen mit dieser ersten Marsmission verknüpfte.
Ließe sich tatsächlich Grundwasser in größeren Vorkommen auf dem Mars nachweisen, würde das ein völlig neues Kapitel in der Besiedelung des Sonnensystems aufschlagen. Doch selbst dann würde es Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte, benötigen, eine ständige Kolonie auf dem roten Planeten zu errichten. Was die Menschen mit dieser Mission unternahmen, war nicht mehr als ein erster Schritt ins Weltall.
Ein kleiner, zaghafter Schritt der Menschheit.
McAllister setzte sich auf den Fahrersitz. Er schloss seine Finger um den Steuerhebel zu seiner Rechten und drückte den Startschalter mit dem Daumen nach vorne. Der Elektromotor startete ohne Verzögerung und setzte die leichte Aluminiumkarosserie in Bewegung. Feiner Staub stob von der Marsoberfläche empor. McAllister wies sich beim Anblick der vorüberziehenden Landschaft für seine Gedanken zurecht. Er war auf dem Mars, Himmel noch mal! Alleine darauf hatte die Menschheit seit der ersten Mondlandung über ein halbes Jahrhundert hingearbeitet.
Und doch war das nichts im Vergleich zu der Nachricht, die ihm gerade sein Funker übermittelt hatte …

 

»Sie kommen spät«, begrüßte ihn Li Ning, die gleichberechtigte chinesische Kommandantin der Marsmission, in akzentfreiem Englisch.
»Der Verkehr ist um diese Zeit höllisch«, antwortete McAllister und trat aus der Schleuse. Ning warf ihm einen Blick zu, der deutlich machte, dass sie nach wie vor mit seiner Art Humor nichts anfangen konnte.
Sie war mit ihren sechsundvierzig Jahren gut zehn Jahre älter als er, und es war seit ihrer Landung kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht spüren ließ, dass sie am liebsten die alleinige Leitung über das sechsköpfige Team beansprucht hätte.
Doch darauf hatten Washington und Peking bei dieser gemeinsamen Mission genau geachtet: dass jedes Land mit zwei Astronauten vertreten war, ergänzt durch zwei weitere Mitglieder aus neutralen Staaten, auf die sich beide Regierungen hatten verständigen können.
Den beiden Mitgliedern aus Indien und Kanada war es ›vergönnt‹, an Bord des Kommandomoduls der Ares I den Mars zu umkreisen und im Orbit ihre Untersuchungen und Vermessungen durchzuführen, während sich die Bodenmission aus den chinesischen und amerikanischen Mitgliedern zusammensetzte.
Es geht doch nichts über politisch ausgewogene Entscheidung, dachte McAllister grimmig.
»Sollen wir die übrigen Besatzungsmitglieder nicht hinzurufen?«, fragte Ning, als habe sie McAllisters Gedankengänge mitverfolgt.
»Nein, für den Augenblick sollten nur wir beide als Kommandanten die Nachricht anhören«, antwortete er. »Jordan, ich muss also auch dich bitten …«, wandte er sich an den Kommunikationsoffizier, der den einzigen Stuhl in der engen Kammer belegte.
Der Afroamerikaner drehte sich in seinem Sitz um und runzelte die Stirn. »Aber ich habe doch schon …«
»… den Anfang der Nachricht gehört«, vervollständigte Clifford McAllister den Satz. »Und das war’s erst mal. Also, bitte«, er machte mit seiner rechten Hand eine Geste, die dem Astronauten andeutete, aufzustehen.
Jordan Ordache schnaufte und legte das Bügelmikrofon ab. »Kanal zwei«, erklärte er kurz angebunden, nachdem er aufgestanden war.
»Tut mir echt leid«, raunte ihm sein Commander zu. »Sobald wir Freigabe haben, informieren wir die gesamte Crew, okay?«
Ordache blickte mit verhärteter Miene geradeaus.
»Wenn das alles wäre, Sir«, antwortete er nur.
McAllister nickte. »Wegtreten.«
Er sah dem stämmigen Mann nach und fragte sich, wie es ihm gelang, trotz der geringen Schwerkraft so forsch aus der Kabine zu rauschen. Hätte er die Schleusentür zuschlagen können, hätte er es wohl getan.
Der Commander wartete, bis das Schott der Schleuse geschlossen war, und wandte sich an seine Kollegin.
»Wollen Sie?«, fragte er und wies auf die Konsole. Die Chinesin sah ihn nur mit undeutbarem Gesichtsausdruck an und aktivierte die Übertragung.
Sie war selbstverständlich aufgezeichnet. Ein direkter Austausch mit den Bodenkontrollen war mit großem Zeitaufwand verbunden, da jede Nachricht acht Minuten zur Übermittlung benötigte.
Das Gesicht von Robert Hayes erschien, dem stellvertretenden Koordinator der Ares-Mission. Ordache hatte das Video wohlweislich zum Anfang zurückgespult.
»Was ich Ihnen erzähle, Commander McAllister und Commander Ning, unterliegt der höchsten Geheimhaltung. Was und wie viel Sie Ihren Teammitgliedern erzählen, steht Ihnen nach eigenem Ermessen frei. Wir können hier unten auf der Erde ohnehin keinen großen Einfluss darauf nehmen – außer darauf zu vertrauen, dass Ihnen die Tragweite dessen, was ich Ihnen nun erzähle, bewusst ist.«
Hayes fuhr sich über den Mund, bevor er fortfuhr.
»Vor zwei Wochen hat ein Nachrichtensatellit ein gleichmäßiges Signal aufgeschnappt. Dabei hat sich niemand etwas gedacht. Aber das Signal nahm an Intensität zu und überlagert inzwischen einen Teil unserer globalen Kommunikation. Gegenüber den Medien bezeichnen wir es als Störungen durch unerwartete Sonnenaktivitäten. Ich wünschte, dass dem so wäre …«
Ein Fenster wurde in den Bildschirm eingeblendet. Es zeigte den irdischen Mond. McAllister warf Li Ning einen fragenden Blick zu.
»Wir haben das Signal zurückverfolgt und dabei unsere Partner zur Bestimmung mit einbezogen – selbstverständlich auch unsere chinesischen, Commander Ning. Das Signal stammt vom Südpol des Mondes. Und es ist auf den Mars gerichtet …«
Clifford McAllister sog den Atem hörbar ein. Li Ning neben ihm entfuhr ein überraschter Laut. Das erste Mal, dass sie ihr beherrschtes Auftreten verliert, dachte der Kommandant bei sich.
»Es ist uns aufgrund der schieren Entfernung unmöglich, den Zielpunkt genau zu bestimmen, Commander«, fuhr Hayes fort. »Wir haben ihn auf ein Gebiet etwa dreihundert Kilometer nordwestlich von Ihrer Landestelle eingegrenzt. Mit dem Mars-Rover sollten Sie die Strecke innerhalb eines halben Tages bewältigen. Wir übermitteln Ihnen alle Daten zur Frequenz. Damit müssten Sie das Ziel anpeilen und lokalisieren können.«
Hayes rieb sich die Augen und beugte sich vor.
»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das heißt, Commander. Wir haben das Signal nicht gesendet. Und so wie es aussieht, sind wir auch nicht diejenigen, für die es bestimmt ist.«
Trotz der Wärme in der Kabine fühlte McAllister eine Gänsehaut auf seinem Rücken. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wollte nicht einmal in Worte fassen, was Hayes andeutete. Nein, eigentlich offen aussprach.
»Commander Ning«, hörte er seinen Vorgesetzten, »ich übergebe nun an meinen Kollegen Yeng. Er wird Ihnen bestätigen, was ich soeben Commander McAllister mitgeteilt habe. Ich möchte Sie beide bitten, im Wohle der Menschheit die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, was immer Sie finden mögen.«
Clifford McAllister hörte den abschließenden Worten kaum noch zu. Er sah, wie das Bild wechselte und Xiang Yeng, den verantwortlichen Leiter bei der CNSA, der chinesischen Raumfahrtbehörde, einblendete. McAllisters Chinesisch-Kenntnisse beschränkten sich auf ein Minimum, und so folgte er den Ausführungen des Mannes nicht. Er beobachtete das Gesicht Li Nings, das zunehmend angespannter wurde.
Der Commander verschränkte die Arme. Er bemühte sich, sein Misstrauen nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, das ihn tagtäglich begleitete. Die USA und China hatten diese gemeinsame Mission nur deshalb ins Leben gerufen, da beide Regierungen es bei der derzeitigen angespannten Lage auch im politischen Sinne für begrüßenswert hielten, wenn die beiden mächtigsten Länder der Welt ein Zeichen setzten und bei diesem Projekt kooperierten, indem sie ihre Kräfte bündelten.
Dennoch traute er den beiden Taikonauten an Bord, wie sie sich selbst nannten, nicht mehr als er musste. In diesem Augenblick ärgerte es ihn allerdings viel mehr, dass er die Erläuterungen aus Peking nicht verstehen konnte.
Die Videonachricht auf dem kleinen Monitor erlosch. Li Ning stützte die Hände auf die Konsole und erhob sich nicht. Sie hielt ihren Blick auf den Bildschirm gerichtet, auf dem nun das Abzeichen der Ares-Mission eingeblendet wurde.
»Sie haben doch einen Bourbon an Bord geschmuggelt, nicht wahr?«, richtete sie ihre Frage unvermittelt an McAllister.
Dieser sah sie verblüfft an und rang sich ein Lächeln ab.
»Einen doppelten?«, fragte er.
»Ohne Eis«, verlangte Li Ning.

 

2.

»Wollen Sie es aussprechen, oder soll ich es tun?«, fragte McAllister.
»Was meinen Sie?«, wollte Li Ning wissen. Sie schwenkte das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ihrer Hand. Der Commander war beeindruckt, wie gut sie sich für ihren zweiten Doppelten hielt.
»Das böse Wort«, sagte er.
»Ah«, erwiderte Ning. »Moment«, sie nahm einen Schluck, verzog den Mund und hustete. »Jetzt. Außerirdische. Meinen Sie das? Gar nicht mal so schwer, wenn man nicht mehr ganz nüchtern ist«, erklärte sie mit einem dezenten Lallen in der Stimme.
»Ja, das hatte ich gemeint«, erwiderte er.
Clifford McAllister leerte sein Glas in einem Zug und konzentrierte sich auf das Brennen in seinem Hals. Zu seinem Bedauern betäubte die scharfe Flüssigkeit nicht die Gedanken, die in seinem Kopf wild umherwirbelten.
»Sollen wir es den anderen sagen?«, wandte er sich an seine Kollegin. Ning zuckte mit den Schultern. Nichts an ihrem Verhalten erinnerte im Augenblick noch an die abweisende Art, mit der sie ihn seit den ersten Trainingsstunden behandelt hatte.
»Was haben wir für eine Wahl?«, fragte sie. »Finden wir nichts, haben wir nichts verloren. Außer ein, zwei Tagen, in denen wir einem Spuk nachjagen. Und sollten wir etwas finden, wie könnten wir es gegenüber den übrigen verheimlichen? Wir sind noch über sieben Monate auf dem Mars. Wir sind darauf angewiesen, dass wir uns gegenseitig trauen und vertrauen.«
McAllister sah sie an, ohne etwas zu sagen. Er fragte sich, ob er Ning nicht doch falsch eingeschätzt hatte.
»Noch einen?«, er drehte den Schraubverschluss der Flasche ab.
Die Chinesin legte die Hand übers Glas.
»Nein, danke. Ich bin betrunken genug, um nicht durchzudrehen. Aber noch nüchtern genug, um klar denken zu können. Das ist ganz angenehm so.«
Sie ruckte auf ihrem Klappsitz, der fest in der Wand verankert war, hin und her und grummelte etwas auf Chinesisch, das der Astronaut nicht verstand. Die enge Kabine seines Wohncontainers bot McAllister alleine schon kaum Platz, geschweige denn einem Gast.
»Wir können ohnehin nicht beide an der Erkundung teilnehmen«, überlegte Ning. »Wenn etwas passiert – und das müssen wir einkalkulieren –, dann braucht diese Mission einen aktiven Kommandanten. Das heißt, wir müssen einen oder eine aus dem Team einweihen.«
McAllister nickte. Trotz ihres Bourbonkonsums behielt sie einen klareren Kopf als er, stellte er verärgert fest.
»Und wer von uns beiden soll gehen?«, fragte er.
»Wollen Sie?«, fragte die Chinesin. »Der Abenteurergeist liegt euch Amerikanern doch im Blut.«
Er lachte. »Und das sagt ausgerechnet eine Frau, die gerade mit mir Bourbon auf dem Mars trinkt!«
»Sie wissen, was ich meine«, entgegnete Ning. Ihre Stimme hatte einen verärgerten Unterton. McAllister legte ihr eine Hand auf den Unterarm, der auf dem kleinen Tisch ruhte. Sie entzog ihn nicht, bedachte den Mann vor sich aber mit einem ernsten Blick.
»Ich schlage vor, ich nehme Yang mit«, erklärte der Commander ruhig. »Es ist eine amerikanisch-chinesische Mission, und als solche führen wir sie auch fort.«
McAllister konnte spüren, wie die Anspannung in der Chinesin nachließ. Sie musterte ihn mehrere Sekunden lang und nickte dann.
»Das klingt mir sehr vernünftig«, meinte sie. »Damit wird auch Peking einverstanden sein, denn Xiang hat mich aufgefordert, ihm unseren Entschluss mitzuteilen. Ihr Hayes hat da offenbar mehr Vertrauen in Sie.«
Clifford verzog die Lippen. Das bezweifelte er. Er ging eher davon aus, dass bei der NASA niemand einen blassen Schimmer hatte, wie man vorgehen sollte. Vor allem, wenn sie tatsächlich auf einen Fund stoßen sollten.
»Jetzt noch einen?«, fragte er und wies auf die Bourbonflasche.
Li Ning nickte und reichte ihm ihr Glas. »Ich hoffe, das ist nicht Ihre letzte«, meinte sie und prostete ihm zu.

 

Es war McAllister schwer gefallen, Xie Yang nicht vollends einzuweihen. Erst recht, da dieser natürlich genauere Informationen über die Art der Exkursion haben wollte, um sich entsprechend vorzubereiten.
Der Chinese war neben dem Kanadier Dallatier einer der beiden Geologen im Team, und von daher nicht nur im Sinne der politischen Zusammenarbeit die naheliegendste Wahl für den US-Commander. Sollten sie unter der Oberfläche etwas orten, war Yang der Mann, den er vor Ort dabeihaben wollte.
Yang beherrschte Englisch bei Weitem nicht so gut wie Ning. Es würde für eine Verständigung zwischen ihnen beiden reichen, aber McAllister stellte sich auf eine eher schweigsame Fahrt ein. Wenigstens kam er dadurch nicht in Versuchung, mehr zu erzählen als im Augenblick nötig.
Ning und er hatten sich darauf verständigt, dem Team die Exkursion als Anweisung von der Erde zu erklären. Man habe auf Spektralaufnahmen Messwerte festgestellt, die näher untersucht werden sollten. Entweder hatten die chinesische Kommandantin und er sich so gut im Griff, dass den restlichen Teammitgliedern nichts aufgefallen war. Oder sie unterließen es, nachzufragen.
Vielleicht waren sie jetzt, im sechsten Monat, auch nur dankbar für jede Ablenkung. McAllister hätte nie gedacht, dass die Eintönigkeit ihr schlimmster Gegner werden würde. Viele der Untersuchungen liefen automatisiert ab, die Werte wurden an die Bodenstellen auf der Erde übermittelt und dort ausgewertet. Sobald die Apparaturen aufgebaut waren, gab es für jedes Besatzungsmitglied kaum mehr zu tun als sie zu überwachen und zu warten.
Yang schien derjenige zu sein, der am wenigsten unter der Einöde litt. Clifford McAllister verzog die Lippen. Wie auch? Schließlich hatte er als Geologe einen ganzen Planeten für sich allein und konnte sich an den Gesteinsschichten austoben.
Er stellte den Werkzeugkoffer neben dem Mars-Rover ab und richtete sich auf. McAllister presste die Lippen aufeinander und blickte in die ungefähre Richtung ihres Ziels.
Womöglich war es in einem Tag vorbei mit der Eintönigkeit. Was immer sie auch dort fanden …

 

»Rover an Bodenstation. Wie ist der Empfang?«
»Klar und deutlich, Cliff«, antwortete Ordache volltönend aus dem Helmmikrofon.
»Wir haben Sie klar auf dem Raster, Sir«, erfolgte die Antwort von Priya Shastri, der Inderin, die zusammen mit Henri Dallatier, dem frankokanadischen Mitglied, an Bord der Ares die Exkursion überwachte.
»Roger«, antwortete McAllister. »Beruhigend, dass Sie von da oben ein Auge auf uns haben.«
»Leider nicht mehr lange, Commander. Wir treten in gut zehn Minuten in den Orbitschatten ein und können Sie erst wieder in einer dreiviertel Stunde orten«, klärte ihn die Inderin auf.
McAllister lauschte ihren Worten. Er genoss den exotischen Klang ihrer Stimme. Zu schade, dass Shastri nicht der Bodenmission zugeteilt worden war, stellte er nicht zum ersten Mal mit Bedauern fest. Andererseits hätten die Räumlichkeiten ein intimes Zusammensein ohnehin kaum ermöglicht.
Er seufzte.
»Ist etwas, Commander?«, ertönte die Stimme eines Mannes. Sie war fein akzentuiert und konnte doch den Dialekt nicht verbergen.
McAllister wandte den Kopf in seinem Raumanzug so gut es ging nach rechts. Neben ihm saß Xie Yang. Es war dem Chinesen deutlich anzusehen, dass er die holprige Fahrt im Rover nicht gewohnt war. Seine Rechte hatte sich so fest um das Gestänge des Überrollbügels gelegt, dass McAllister glaubte, die Knöchel unter den dicken Handschuhen hervortreten zu sehen.
Das robuste Geländefahrzeug war alles andere als bequem. Die Sitze fingen nur notdürftig jede Bodenwelle ab. Da es keine geschlossene Kabine gab, umwehte fortlaufend aufgewirbelter Staub die beiden Männer, deren Raumanzüge dadurch inzwischen eine rotbraune Färbung angenommen hatte. Immer wieder musste McAllister die Instrumentendisplays sauber wischen.
Damit hatte er gerechnet und deshalb auch darauf verzichtet, die Außenkamera an seiner Schulter zu montieren, um jeden Eindruck der Expedition festzuhalten. Solange sie im Rover fuhren, würde man nicht mehr erkennen können als verwischte Bilder – falls die Linse nicht innerhalb weniger Minuten mit Staub bedeckt war. Er nahm sich vor, sie aus dem Gepäck zu holen, sobald sie den Tharsis Tholus erreicht hatten.
»Nein, es ist nichts«, antwortete er. »Ich mache mir nur Gedanken über unsere Mission.«
Und zwar solche, die ich dir nicht mitteilen werde, dachte er und lenkte sich lieber mit Bildern von Priya Shastri vor seinem inneren Auge ab.
»Ich verstehe«, entgegnete Yang kurz angebunden. McAllister überlegte für einen Augenblick, ob er das Gespräch mit unverfänglichen Themen fortsetzen sollte, konzentrierte sich dann aber doch auf den Weg, ohne weiter auf seinen Begleiter einzugehen. Den Chinesen schien das Schweigen nicht weiter zu stören, und so beließ es McAllister bei Rückmeldungen und Positionsangaben an die Basisstation und konzentrierte sich auf die Anzeigen.
Eigentlich hätte er gar keinen Blick darauf werfen müssen. Denn ihr Weg führte sie in direkter Linie zum Tharsis Tholus. Der flachkegelige Berg schob sich auf Dutzenden Kilometer als einzige Erhebung unverkennbar aus der gewaltigen Ebene des Valles Marineris. Obwohl seine Spitze in sich zusammengefallen war, ragte das Massiv früheren Messungen zufolge immer noch über acht Kilometer aus dem Boden.
Wie der Mount Everest, nur ohne Himalaya, ging es dem Commander durch den Kopf.
Man nahm an, dass es sich um einen erloschenen Vulkan handelte. Sollte dieser Berg wirklich ihr Ziel sein, konnte McAllister ungestört seinen Peilungen nachgehen, während er Yang bei dessen Untersuchungen freie Hand ließ.
Er warf dem Chinesen einen schnellen Blick zu. Unter dem Helm konnte er sehen, wie sich die Lippen bewegten. Offensichtlich hatte er auf den privaten Kanal geschaltet, den Ning mit ihm eingerichtet hatte.
Clifford McAllister schürzte die Lippen.
Nicht, dass er es auf Konversation angelegt hatte, doch dieses Verhalten war alles andere als geeignet, das Vertrauen zwischen den beiden Mannschaften zu fördern.
Er fragte sich, ob Ning ihr Teammitglied nicht doch eingeweiht hatte. Während er niemanden hatte, mit dem er sich austauschen konnte. Ordache jetzt zu informieren, schien ihm unsinnig.
McAllister wich einer schräg abfallenden Erhebung aus.
Der staubige Boden war nun einem harten, graubraunen Felsuntergrund gewichen, der nach Jahrmillionen der Verwitterung von zahllosen Furchen und Schründen durchzogen war, immer wieder aufgebrochen durch handflächengroße, kreisrunde Einschläge von Mikrometeoriten, die in der dünnen Atmosphäre nicht verglühten, sondern ungehindert auf der Oberfläche aufschlagen konnten.
Die Luft war frei von Staubpartikeln und ermöglichte eine ungehinderte Sicht. Über den Astronauten erstreckte sich ein fahler, aprikosenfarbener Himmel, an einer Stelle erhellt durch die viel zu klein erscheinende Scheibe der Sonne.
Es konnte ein warmer Tag werden, überlegte McAllister. Auf ihrem Breitengrad vielleicht sogar um die fünfzehn Grad Celsius, zumindest solange die Sonne nicht untergegangen war.
Er musste einen Blick auf die Positionsanzeige werfen, um ihre Entfernung abzuschätzen. Der freie Blick half ihm dabei wenig. Einen so gewaltigen Berg isoliert in der Landschaft zu sehen, war ein solch unwirklicher Anblick, dass McAllister keinen Bezugspunkt dazu fand. Es gab in der tellerflachen Ebene kein anderes Merkmal, an dem er sich orientieren konnte.
Noch gut dreißig Meilen, schätze er. Solange sie so ungehindert vorankamen, sollte es keine zwei Stunden mehr dauern, bis sie die ersten Ausläufer des Tharsis Tholus erreicht hatten.
McAllister stutzte.
Der Steuerhebel in seiner Hand begann zu vibrieren. Der Commander warf einen Blick zur linken Seite auf den Boden und sah, wie das Geröll schier über den steinigen Untergrund tanzte.
Das kann unmöglich am Rover liegen, mutmaßte McAllister und runzelte die Stirn.
Ein Dröhnen erfüllte das Innere seines Helms. Mit einem ohrenbetäubenden Grollen hallte es in den Ohren des Mannes wider. Der Commander biss die Zähne zusammen und konnte nur hoffen, dass das Geräusch abschwoll.
»Was ist das?«, schrie Yang schwer verständlich in den Helmfunk.
»Ich weiß es nicht!«, gab McAllister zurück und konnte seine eigene Stimme dabei kaum verstehen. Er hatte Mühe, den Rover geradeaus zu steuern. Der Untergrund erzitterte wie bei einem Erdbeben. Immer wieder brach der Wagen aus und geriet dabei in eine bedrohliche Schräglage.
»…ster! Ver- …en S- …ich?«, schälte es sich aus dem Dröhnen zu dem Astronauten durch. Er erkannte Nings Stimme, auch wenn sie nur verzerrt und abgehackt durchkam.
»Ja! Aber nur sehr schwach!«, schrie er gegen den Lärm an.
»…eue Sendeamplitude gemessen …«, erklang es nun etwas deutlicher. »Ziel … -sis Tholus«, die Verbindung brach ab. »…-rstanden?«
»Süße, ich habe das nicht nur verstanden. Ich befürchte, wir bekommen das gerade mit voller Wucht zu spüren, was ihr da messt«, antwortete er mit einem grimmigen Lächeln. Ohne zu wissen, ob sie ihn verstanden hatte. Und ihn für seine flapsige Art später zur Rede stellen würde.
Und dann war es, als erbebe das gesamte Bergmassiv in seinen Grundfesten. Die Umrisse des Tharsis Tholus verschwammen vor McAllisters Augen, als legten sich zwei ineinander verschobene Bilder übereinander, bis sie wieder eine klar erkennbare Linie formten.
Von einer Sekunde auf die andere war es still. Der Steuerhebel des Rovers lag nun wieder sicher in der Hand des Astronauten.
Er schnaufte und sah sich nach seinem Begleiter um.
»Wie ist es, Yang?«
Dieser zwang sich ein Lächeln ab. »Es geht«, stieß er aus. »Was war das?«
McAllister schüttelte den Kopf. »Ich weiß es ni-…«
Die Staubwolke erwischte die beiden Männer ohne Vorwarnung und fegte explosionsartig über sie hinweg. Wie ein Spielzeug wurde der Mars-Rover in die Höhe geschleudert und durch die Luft gewirbelt.
Clifford McAllister konnte nicht mehr machen, als seine Hände um die Lenkkonsole zu legen und sich gegen den Druck zu stemmen, der ihn mit aller Wucht aus dem Sitz reißen wollte.
Trotz des gepolsterten Raumanzugs schnitt der Sicherheitsgurt in seine Brust. Der Astronaut schrie auf und fühlte, wie ihm die Luft regelrecht aus den Lungen gepresst wurde.
Wenn der Anzug beschädigt wurde, hatte er einen qualvollen Tod vor sich, jagte der Gedanke durch seinen Kopf. Sandkörner prasselten gegen das Helmglas und zogen Kratzer über das widerstandsfähige Material.
McAllister wurde durch die Wirbelbewegungen schwarz vor Augen – und dann schmetterte der Rover zu Boden. Er prallte gegen einen Felsen, wurde herumgeworfen und überschlug sich mehrmals. Das Gestänge verformte sich unter der Belastung und brach.
Der Commander kauerte sich instinktiv zusammen und presste seinen Helm gegen die Steuerkonsole. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass sein Körper im Sitz hin und her geworfen wurde.
Er prallte gegen etwas, das er im aufpeitschenden Sand nicht erkannte, und dann schwanden Clifford McAllister die Sinne.

 

Er fühlte sich so hundeelend, als habe er mehr getrunken als er verkraften konnte. Am liebsten hätte er sich übergeben, so sehr revoltierte sein Magen.
»Basisstation, hier Commander McAllister. Könnt ihr mich hören? Jordan?«, brachte er hervor.
Er wartete ab. Doch nicht einmal ein Rauschen war in seinem Helmfunk zu hören. Ermattet schloss McAllister die Augen. Hoffentlich war der Transceiver am Rover noch intakt, sonst hatten sie ein echtes Problem.
Er bewegte seinen rechten Arm und biss die Zähne aufeinander. Schmerzen zogen durch seine Muskeln, doch zumindest schien kein Knochen gebrochen zu sein.
McAllister drehte sich in der Klammer des Sicherheitsgurts, der sich nach wie vor um ihn schloss, und konnte einen Schrei nicht unterdrücken. Er schüttelte unwillig den Kopf und wartete, bis die Schmerzen in seinem Rücken abgeklungen waren.
McAllister konzentrierte sich auf seine Zehen – und konnte sie bewegen. Er atmete auf. Offenbar hast du den Aufprall ohne größere Verletzungen überstanden. Nach und nach bewegte er all seine Gliedmaßen und stieß einen Fluch nach dem anderen aus. Bis auf mehr Prellungen und Stauchungen, als du wohl je zuvor in deinem Leben eingesteckt hast!, stellte er fest.
Er wandte den Kopf, soweit das in der engen Halsmanschette des schweren Raumanzugs möglich war, und ignorierte den Schmerz in seinem Nacken. Auch der Anzug schien unbeschädigt zu sein. Das Sichtglas seines Helms jedoch wies zahlreiche Kratzspuren auf, als sei es mit Schleifpapier abgeschmirgelt worden. Er konnte selbst die nächste Umgebung nur verschwommen erkennen.
»Yang«, fragte er und hoffte, dass die Bluetooth-Funkverbindung noch intakt war.
Doch er erhielt keine Antwort. Der Mann neben ihm hing regungslos in seinem Sitz. McAllisters Miene verhärtete sich. Er streckte seine rechte Hand aus und schüttelte den Chinesen vorsichtig an der Schulter, ohne eine Reaktion zu erhalten.
Der NASA-Astronaut sah sich um. Er musste sich aus seiner Lage befreien und dann darauf hoffen, seinem Begleiter helfen zu können. Was in den hermetisch geschlossenen und schweren Raumanzügen ohnehin kaum möglich war. Jede Verletzung würde unbehandelt bleiben, bis sie wieder in der Basisstation waren.
McAllister wurde jetzt erst bewusst, dass er schräg mit dem Kopf nach unten hing. Durch die geringere Schwerkraft des Planeten war ihm das bisher nicht aufgefallen. Nicht einmal das Blut war ihm in den Kopf gestiegen.
Er blickte über seine Schulter. Bis zum steinigen Boden war es gut ein halber Meter an Höhe. Er ging davon aus, dass sein Anzug einen Sturz aus dieser Höhe aushalten würde, ohne ernsthafte Beschädigungen davonzutragen.
Dennoch krallte er den Handschuh seiner linken Hand um die Querstange der Steuerkonsole, während er mit den Fingern der rechten am Verschluss des Sicherheitsgurts nestelte.
Die magnetische Verriegelung schnappte auf. Umgehend verlor seine linke Hand den Halt, und der Astronaut rutschte über die Rückenlehne seines Sitzes nach unten. Er überschlug sich und verlor für einen Moment die Orientierung.
McAllister zerdrückte einen Fluch zwischen den Lippen und landete bäuchlings auf dem graubraunen Gestein. Er atmete schwer und konnte den Schweiß über seine Stirn laufen fühlen. Obwohl sich seine Gliedmaßen der Schwäche hingeben wollten, die sich in ihnen breit machte, zwang er sich dazu, ein Knie aufzustützen und sich hochzudrücken.
Der Commander schwankte und keuchte und musste sich am emporragenden Überrollbügel des Rovers festhalten. McAllister musste nur einen einzigen Blick auf das Fahrzeug werfen, um resigniert den Kopf zu schütteln.
Das Gestell war durch den Aufprall an der rechten Seite stark eingedrückt worden. Aber selbst wenn die Karosserie noch intakt geblieben wäre – die gebrochene Hinterachse machte jedes Vorankommen unmöglich.
Sie waren hier gestrandet. Und es spielte überhaupt keine Rolle, ob das Funkgerät noch funktionierte. Die Basisstation war gut zweihundert Meilen entfernt. Und es gab nur diesen einen Rover. Niemand hatte es je in Betracht gezogen, ein zweites Fahrzeug einzuplanen. Alleine aus Platzgründen wäre solch ein Vorschlag verworfen worden.
Ning konnte also keine Hilfe schicken, auch wenn er sie über die Situation hätte informieren können, in der sein Begleiter und er sich nun befanden.
Er warf einen letzten Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Zumindest vermutete McAllister, dass er dorthin blickte. Er konnte nicht abschätzen, wie sehr sie der Sturm vom Kurs abgebracht hatte, und auf dem kargen Stein zeichneten sich nicht einmal Reifenspuren in der näheren Umgebung ab.
Er stieß die Luft aus.
»Yang, wir haben ein Problem«, meinte er und drehte sich zu dem Mann um, der nach wie vor im Sitz hing. »Aber eines nach dem anderen. Erst mal befreie ich dich und bringe dich wieder auf die Beine.«
Er hangelte sich um das Heck des Rovers und beugte sich von hinten über den Geologen.
McAllister stöhnte und wandte den Kopf an. Seine linke Hand ballte sich zur Faust und schlug gegen das Gestell.
Der Raumanzug des Chinesen war im Unterbauch dunkelrot gefärbt. Eine Metallstrebe, die aus der Aufhängung der Vorderachse gebrochen war, ragte aus dem regungslosen Körper. Selbst wenn die Verletzung Yang nicht getötet hätte, wäre er durch die Dekompression und den Sauerstoffverlust längst erstickt.
Clifford McAllister lachte gequält auf und fletschte die Zähne.
Er war hier draußen, mitten im Niemandsland eines fremden Planeten. Sein Begleiter war tot, und über einen Weg zurück zur Basis brauchte er nicht nachzudenken.
Zu Fuß benötigte er für die Strecke in einem Raumanzug mindestens vierzig Stunden. Er blickte auf die Kontrollanzeigen auf der linken Unterarmmanschette. Diese zeigten eine O2-Tankfüllung von knapp 60 Prozent an. Damit konnte er vielleicht zwölf Stunden durchhalten. Selbst wenn er die Kanister aus Yangs Anzug barg, konnte er bestenfalls die Hälfte der Strecke überwinden.
›Aufgeben‹ war für McAllister ein Fremdwort.
Er wusste aber genau, wann er sich berechtigte Hoffnungen machen konnte. Und wann er sich nur Illusionen hingab. Und es war illusorisch zu glauben, er könnte die Basisstation lebend erreichen.
»Tja, immerhin bist du auf dem Mars«, stieß er aus.
Er war erst als Ersatzmann zum Leiter des US-Teams ernannt worden. Nach dem Zwischenfall auf dem Mond, der John Storm den Job gekostet hatte, hatte er keine Sekunde überlegt, sondern sofort zugegriffen. Storm und er hatten nie viel Kontakt miteinander gehabt, anders als viele Mitglieder aus den Teams der Apollo-Missionen seinerzeit, die aufeinander eingeschworen gewesen waren.
Nach dessen Weggang von der NASA hatte er nichts mehr von ihm gehört. Selbst sein Busenfreund Richard Burke war inzwischen nicht mehr bei der Behörde. An dessen Stelle war Ordache dazugestoßen, frisch von der Navy abkommandiert – und ein absoluter Gewinn für seine neu zusammengestellte Crew. Mit dem Afroamerikaner hatte er sich auf Anhieb hervorragend verstanden.
»Ich gebe zu, im Augenblick wäre es mir ganz recht, wenn Sie an meiner Stelle wären, Storm …«
Er stemmte die Arme in die Hüften und sah auf. Sein Blick schweifte über die Ebene und richtete sich erst zum Schluss auf den Tharsis Tholus, den Berg, den er für das Unglück verantwortlich machte.
Was war nur geschehen?, ließ McAllister der Gedanke nicht los. Es hatte fast so geschienen, als habe der Berg selbst den Sturm erst entfesselt.
Der Astronaut schüttelte den Kopf.
Unmöglich!
Unm…
Er stutzte und kniff die Augen zusammen.
McAllister wagte nicht einmal, zu blinzeln. Seine Augen schweiften über den Bergfuß. Und tatsächlich, da war es wieder!
Ein Aufblitzen, nur knapp über dem Boden.
Es kam regelmäßig. Viel zu regelmäßig, um natürlichen Ursprungs zu sein. Die Erregung wuchs in McAllister. Wer oder was immer dort vor ihm war – es war näher als die Basisstation, die für ihn in unerreichbare Ferne gerückt war.
Der Astronaut vermied es, darüber nachzudenken, dass er dort unmöglich auf Menschen treffen konnte. Und vielleicht bildete er sich das Blinken auch nur ein.
Ihm war es gleich, was ihn dort erwartete.
Er hatte ein Ziel vor Augen.
Und das war alles, was er brauchte. Er war nicht gewillt, hier tatenlos neben dem Wrack und einem Toten abzuwarten, bis sein eigener Sauerstoffvorrat zur Neige ging.

 

Der Atem brannte in seiner Brust.
Obwohl die Klimaanlage im Anzug auf voller Leistung arbeitete, rann McAllister der Schweiß aus allen Poren. Er blieb stehen und streckte seinen Körper.
Mit geöffnetem Mund sog er die Luft ein und wartete so lange, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigt hatte. McAllister beugte den Kopf zur Seite. Seine Lippen fanden das Trinkröhrchen, das an der Halsmanschette befestigt war. Er musste den kleinen Stöpsel, der es verschloss, anheben und saugte.
An den Geschmack der isotonischen Flüssigkeit, die im Raumanzug schnell Körpertemperatur annahm, hatte er sich in all den Monaten nicht gewöhnen können. Er hatte ihn zwischen ›geschmolzenem Erdbeerkaugummi‹ und ›verdünntem Spülmittel‹ eingeordnet und war darauf bedacht, auf seinen Außenerkundungen so wenig wie möglich davon zu trinken.
Im Augenblick aber sog er sie mit einer Gier in sich auf, als dürste es jede Faser seines Körpers nach diesem Geschmack.
Der Blick vor seinen Augen verschwamm. McAllister wusste, dass es nicht von der Wärme aufsteigender Luft stammen konnte, sondern sich die ersten, ernstzunehmenden Symptome von Erschöpfung und einer zunehmenden Verschlechterung der Atemluft ankündigten.
Die Ebene, die sie während der Fahrt so lange begleitet hatte, war nun leicht ansteigenden Erhebungen gewichen.
McAllister konnte das Licht von seinem jetzigen Standpunkt aus nicht mehr ausmachen. Er hoffte nur, sich die Richtung, in der er es zuletzt gesehen hatte, gut genug eingeprägt zu haben, um am weitläufigen Fuß des Berges nicht in eine völlig falsche Richtung zu marschieren.
Marschieren …
Seiner Kehle entwand sich ein gequälter Laut. Bei der Schwäche in seinen Beinen würde es nicht mehr lange brauchen, bis er nur noch kroch. Der Tornister auf seinem Rücken schien inzwischen mit einem tonnenschweren Gewicht auf ihn zu drücken.
Clifford McAllister wusste, dass es nicht leichter werden würde, wenn er sich noch länger ausruhte, und setzte einen Fuß vor den anderen. Schon nach wenigen Metern musste er tatsächlich seine Hände zur Hilfe nehmen, um sich über die Bodenwellen nach oben zu ziehen.
Die Sonne hatte nun ihren höchsten Stand erreicht und tauchte mit ihrem Licht die Umgebung in ein milchiges Weiß. Der NASA-Astronaut klappte das Abblendvisier vor seinen Helm, das nicht weniger zerkratzt war als das Sichtglas, um die Helligkeit zu vermindern.
Seine Finger schlossen sich um einen kantigen Stein. McAllister wuchtete sich hoch und stieß den rechten Fuß in den Untergrund, der sich aus kleinen, grau-violetten Geröllstücken zusammensetzte. Sie rutschten unter jedem seiner Schritte weg und erschwerten ihm das Vorankommen zunehmend.
Der Astronaut hatte seinen Oberkörper halb über die Kante gezogen, als der Stein unter seinen Fingern brach. Ohne den Sturz aufhalten zu können, rutschte McAllister mehrere Meter über die Geröllschicht nach unten und prallte gegen eine Bodenwelle.
Er schrie auf. Tränen schossen ihm in die Augen, und das nicht wegen der Schmerzen, die durch seinen geschundenen Körper jagten. Er verfluchte sich für die Schwäche, der er nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Vielleicht noch eine Meile!, schoss es ihm durch den Kopf. Eine verdammte Meile, die er brauchte, um diesen elenden Berg zu erreichen. Aufstehen, Zähne zusammenbeißen, beim nächsten Mal besser aufpassen!, rief er sich zur Ordnung.
McAllister hob seinen Oberkörper an und stützte die Arme auf – und sackte zurück.
Wem wollte er etwas vormachen?
Er war erledigt. Er hatte keine Kraft mehr. Eigentlich lag er hier ganz bequem. Irgendwann würde er einschlafen und musste sich keine Sorgen mehr machen …
Er war ohnehin alleine. Es war niemand da, der auf der Erde vergebens auf ihn warten würde. Und so sehr es ihn überraschte, tröstete ihn dieser Gedanke. Er hatte nie wollen, dass jemals jemand um ihn trauerte.
Die NASA hatte für den eingeplanten Fall eines Scheiterns vorsorglich darauf geachtet, dass sich die Crew nur aus ungebundenen Astronauten ohne Kinder zusammensetzte. ›Schiff der einsamen Herzen‹ hatten die Medien die Mission daraufhin genannt. McAllisters Mund verzog sich bei diesem Begriff zu einem müden Grinsen.
Kleine Steinchen prallten gegen seinen Anzug. Sie rutschten den Hang hinab und sammelten sich an seiner linken Schulter. Er schlug mit schwachen Bewegungen danach, unwillig, sich noch mehr zu anzustrengen als nötig.
Ein Schatten verdeckte plötzlich seine Sicht. McAllister hob den Kopf an – und riss seine Augen auf, als er das Gesicht erkannte. Sein Mund öffnete sich zu einem tonlosen Stöhnen.
»Hallo, Commander. Sieht aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen«, begrüßte ihn eine kräftige Stimme.
»Storm?«, löste es sich von McAllisters Lippen.

 

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