“Das Orion-Projekt: Vorstoß” – Leseprobe

 

1.

Okuda Takeshida blieb in der geöffneten Ladeluke stehen und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Bordwand. Er warf einen Blick zur Fahne hinüber, die sich im schwachen Wind kaum bewegte.
»In Besitz genommen für die United American Federation und zum Wohle der gesamten Menschheit«, kommentierte er den Anblick trocken. Es gab keinen Anlass dazu, sich wie ein Eroberer oder Entdecker zu fühlen.
Sein Blick wanderte über den smaragdgrünen Himmel, an dessen Horizont sich vereinzelte Wolkenschleier abzeichneten. Sie wuchsen zu langen Streifen zusammen und verdunkelten sich zusehends. Er verlagerte sein Gewicht und ließ die Arme sinken, wobei er drauf achtete, nicht am Schlauch der Luftzufuhr hängenzubleiben. Das war etwas, das ihn stets daran erinnerte, nicht auf der Erde zu sein. Verließen sie das Raumschiff, mussten sie Atemmasken tragen. Über Terraforming würde es möglich sein, den hohen Anteil an Edelgasen in der Luft zu binden, doch dieser Prozess würde Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Selbst mit dieser Einschränkung verblüffte es ihn nach wie vor, wie erdähnlich Kepler-186f tatsächlich war. Die Schwerkraft lag mit 1,15 G nur geringfügig höher. Ununterbrochen untersuchte sein Team die Beschaffenheit des Planeten, was nun nicht mehr in einem sicheren Orbit möglich war. Ihnen blieb bis auf die Schiffssensoren kaum mehr, als sich auf eine klassische erdnahe Untersuchung zu stützen.
Er selbst war Ingenieur und gab als Erster bereitwillig zu, von Xenobiologie oder Geologie keinerlei Ahnung zu haben. Und trotz ihrer verzweifelten Lage konnte er den Enthusiasmus und die Begeisterung seiner Kollegen nachvollziehen. Sie standen auf einem fremden Planeten – und er war bewohnbar. Sollte es der Menschheit gelingen, eine dauerhafte Verbindung herzustellen, würde dieser Planet Milliarden von Menschen ein neues Zuhause bieten können.
Erneut ging sein Blick zu den Wolken. In wenigen Stunden würden sie sich zu einer Regenfront aufgebaut haben, die sie am frühen Abend erreichte, schätzte er. Das Wetter war erstaunlich berechenbar auf diesem Planeten, selbst ohne Satelliten.
Er hatte es sich in den vergangenen Wochen zum Zeitvertreib gemacht, die klimatischen Bedingungen auf Kepler-186f zu beobachten. Gedankenverloren strich er mit den Fingern über das stoppelbedeckte Kinn. Es war längst Zeit für eine Rasur, aber das gehörte zu den Dingen, die hier schnell an Bedeutung verloren hatten. Vielleicht sollte er sich heute die Zeit dafür nehmen. Es gab keinen Grund, sich gehen zu lassen, und auch wenn dies kein militärischer Einsatz war, wollte er gegenüber der Mannschaft als Vorbild dienen.
Er war erstaunt, wie gut die Disziplin unter den dreiundzwanzig Männern und Frauen nach wie vor war. Vielleicht stürzten sich die meisten aber auch nur deshalb Tag für Tag auf ihre Arbeit, um nicht über das nachdenken zu müssen, was die bittere Wahrheit war.
Dass sie auf Kepler-186f gestrandet waren und es keinen Weg zurück gab.
Und die Aussicht auf Rettung so gering war, dass er als Wissenschaftler sie bestenfalls als mathematische Variable betrachtete.
Dabei mochte es an ein Wunder grenzen, dass sie überhaupt noch lebten. Das Fusionstriebwerk war beschädigt, und damit war es unmöglich, mit der ORION den Planeten zu verlassen. Takeshida schüttelte resigniert den Kopf. Diese Crew bestand aus den fähigsten Wissenschaftlern und Ingenieuren, die die UAC aufbieten konnte. Alleine drei von ihnen wären in der Lage, das Triebwerk zu reparieren, er eingeschlossen. Nur fehlten ihnen die nötigen Ersatzteile. Eine Landung auf Kepler-186f war nie vorgesehen gewesen, und erst recht hatte niemand mit einer Notlandung gerechnet.
Und selbst wenn sie die planetare Anziehungskraft hätten überwinden können, hätte der Start so viele Energiereserven verbraucht, dass sie danach nicht mehr genügend für einen Rücksprung zur Erde gehabt hätten.
Die ORION war viel zu nahe am Planeten aus dem Paraversum ausgetreten. Es war höchstwahrscheinlich nicht mehr als eine geringfügige Abweichung im vorausberechneten Kurs gewesen. Oder der Planet verhielt sich in seiner Umlaufbahn anders als ermittelt. Bevor Reuben Maceo, ihr Chefpilot, hatte reagieren können, waren sie in das Schwerkraftfeld des Planeten geraten.
So ruhig die klimatischen Bedingungen direkt auf der Oberfläche waren, so verheerend waren sie in den oberen Schichten der Atmosphäre. Es herrschten Stürme, deren elektrische Aufladung die magnetische Abschirmung der Fusionskammern binnen Sekunden überlastet hatte. Ohne Eindämmung hatte das unkontrollierte Plasma die Magnetspulen so stark beschädigt, dass die Triebwerke nicht neu gestartet werden konnten.
Takeshida hielt es immer noch für ein schieres Wunder, wie es der Crew gelungen war, ohne Bruchlandung auf der Oberfläche aufzusetzen.
Sie hatten keinen einzigen Todesfall zu beklagen gehabt. Vielleicht hielt auch das die Moral der Mannschaft hoch. Dennoch hatte es mehrere Schwerverletzte gegeben, darunter auch die gesamte Cockpitbesatzung. Mit den Bordmitteln konnten sie nur unzureichend versorgt werden. Dafür hätten sie eine chirurgische Abteilung benötigt. Und niemand hatte bei der Planung dieses Projekts in Betracht gezogen, sich auf diesen Fall vorzubereiten.
Seine Miene verhärtete sich.
Es war nur eine Frage der Zeit, wann es das erste Todesopfer geben würde. Und er würde sich die Mitschuld daran geben. Er war selbst blauäugig an diese Mission herangegangen, hatte sich auf die wesentliche Arbeit konzentriert und unvorhergesehene Ereignisse nur am Rande in Betracht gezogen.
Ihre eigentliche Aufgabe hatten sie nicht einmal durchführen können. In der Ladebucht der ORION lag das Massekatapult, das ihnen den Rücksprung überhaupt erst ermöglichte. Und so blieb ihnen nichts anderes, als zu hoffen, dass die UAC eine weitere Mission ansetzte.
Wenn nicht, dann war die Besatzung der ORION unfreiwillig die erste Kolonie auf Kepler-186f.
Er hielt in seinen Gedanken inne.
Die erste menschliche, musste er sich berichtigen.
Er schob die Hände in die Hosentaschen seines Overalls und stieg die Laderampe mit langsamen Schritten hinab. Vor ihm und zu seiner Rechten breitete sich die Landschaft in einer weiten Ebene aus, die nur gelegentlich von flachen Hügeln unterbrochen wurde.
Doch zu seiner Linken, nur widerwillig sah er in die Richtung, erhob sich vielleicht einen Kilometer entfernt ein dunkles, abweisendes Gebilde, das wie eine gewaltige Bunkeranlage aussah. Möglicherweise war es das auch, und die eigentlichen Bauten reichten tief ins Erdreich. Sie hatten es in den ersten Tagen wiederholt inspiziert. Es war eindeutig nicht natürlichen Ursprungs, doch sie hatten dort keinerlei Lebenszeichen feststellen können. Ebenso wenig war es ihnen gelungen, einen Eingang ins Innere zu finden.
Die Witterung hatte unverkennbar ihre Spuren auf der Außenmauer hinterlassen. Moose und Flechten überzogen das Gebäude mit einem grünlichen Schimmer.
Takeshida schürzte die Lippen.
Vielleicht war es besser, nicht zu wissen, was sich darin befand. Wer immer dieses Bauwerk errichtet hatte, hatte es entweder schon längst aufgegeben oder hatte kein Interesse, mit ihnen in Verbindung zu treten.
Takeshida sah, wie Shaundra Kovalski ihm zuwinkte. Die Biochemikerin leitete eine Gruppe, die die Pflanzenwelt auf diesem Planeten untersuchte. Tiere schien es keine zu geben, zumindest nicht in dieser Region. Auch das würde eine Besiedlung erleichtern, da sie sich weniger Gedanken um einen Eingriff ins Ökosystem machen mussten.
Er wollte gerade zu ihr hinübergehen, als sich sein ComPad meldete. Mit gerunzelter Stirn nahm er es aus der Gürtelhaltung und sah aufs Display.
»Takeshida«, meldete er sich. »Was kann ich für Sie tun, Mister Ochonov?«
»Kontakt, Professor!«, rief der Astrogator. »Wir haben Funkkontakt!«
»Funkkontakt? Zu wem?« Unwillkürlich ging sein Blick zu dem abweisenden Bauwerk.
»Ein Schiff!«, überschlug sich Ochonovs Stimme förmlich. »Es befindet sich im Orbit um den Planeten!«
Takeshida sah nach oben und wusste selbst, wie unsinnig das war. Selbst wenn der Himmel nicht von einem dichten Dunstschleier überzogen gewesen wäre, wäre es so gut wie unmöglich, ein Raumschiff mit bloßem Auge auszumachen.
»Was für ein Schiff?«, fragte er mit einer Ruhe in der Stimme, die ihn selbst überraschte.
»Es ist nur ein automatisches Positionssignal«, antwortete der Astrogator. »Wir haben es mehrmals gefiltert, um das Hintergrundrauschen der Atmosphäreschichten auszublenden. Aber … es ist eindeutig ein Schiff der UAC!«
Die Härchen in seinem Nacken richteten sich bei diesen Worten auf.

 

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