“Das Orion-Projekt: Code Omega” – Leseprobe

 

1.

Das Geräusch folgte ihm seit mehreren Minuten.
Es hielt sich im Hintergrund, als wisse es genau, wie weit es von ihm entfernt sein musste, damit er es gerade noch wahrnahm. Blieb er stehen, um in die Richtung zu lauschen, verebbte es. Nur um mit seinem nächsten Schritt wieder einzusetzen.
Michael Reed grinste humorlos. Entweder hörte er ein ganz eigenwilliges Echo, oder jemand trieb seine Spielchen mit ihm. Oder vielmehr etwas …
Seine Finger schlossen sich enger um den Griff der Mark-III. Er warf einen schnellen Blick auf die digitale Anzeige am Lauf. Vierzehn Schuss, sein vorletztes Magazin. Wie um sich zu vergewissern, legte er seine linke Hand auf die Munitionstasche und stieß gepresst den Atem aus, als er das andere Magazin ertastete.
Er hatte keine Ahnung, ob es reichen würde, um hier lebend rauszukommen. Wie hätte er sich und sein Team auf das einstellen sollen, was sie hier an Bord der OMNI erwartet hatte? Und noch immer im Verborgenen lauerte.
Diese Kreaturen wussten genau, dass sie ihm überlegen waren. Sie konnten mit ihm spielen. Und ihn sich zurechtlegen, wie ein Rudel von Katzen eine einzelne Maus. Und ihm blieb gar nichts anderes übrig, als auf ihr Spiel einzugehen. Die letzten Decks hatte er über Wartungsleitern in den schmalen Röhren zurückgelegt, in der Hoffnung, damit den Kreaturen aus dem Weg zu gehen. Keine von ihnen hätte dort Platz gehabt. Selbst ihm in seiner Kampfrüstung fiel es schwer, sich durch die Wartungsschächte zu zwängen.
Damit kam er auch seinem Ziel, dem zentralen Aufzug, nicht näher. Nach fünf Decks hatte er beschlossen, das Versteckspiel aufzugeben. In den Gängen kam er schneller vorwärts.
Ihm war sehr wohl bewusst, dass er leichte Beute für die Kreaturen war, sobald er seine letzte Patrone verschossen hatte. Die MK-5 baumelte von seinem Gürtel. Sie war längst leergeschossen. Reed schnaufte. Ein Feuerstoß aus der Maschinenpistole hätte diese Bestien auf Distanz gehalten. Sie waren nicht unbesiegbar, das hatte er selbst feststellen können.
Ein Gedanke durchfuhr ihn. Gab es an Bord der Raumstation ein Waffenmagazin?
Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. Davon war kaum auszugehen, da es sich bei dem Testflug um einen rein wissenschaftlichen Einsatz gehandelt hatte. Aber was hatte er zu verlieren?
Reed blieb stehen und zog sich in eine Nische zurück. Grinsend nahm er zur Kenntnis, dass nun auch das schleifende Geräusch wieder verschwand. Er aktivierte den Empfang an seinem Bügelmikrofon.
»Kommando? Können Sie mich verstehen? Hier Reed. Erbitte Informationen.«
Er wagte kaum, seine Stimme anzuheben, um seine Position nicht zu verraten. Andererseits … wussten diese Kreaturen nicht längst, wo sie ihn finden konnten? Er traute ihnen zu, dass ihnen ihr Instinkt mitteilte, wo sie ihre Beute fanden. Vielleicht rochen sie das Blut aus der Wunde an seiner Schläfe. Vielleicht konnten sie seine Anspannung riechen wie eine Duftspur, der sie nur zu folgen brauchten. Oder sie verfügten über Sinne, die ihm völlig fremd waren.
Der erste Kontakt zu Außerirdischen … und er musste um sein Leben fürchten. Wie lange hatte sich die Menschheit schon gefragt, ob es da draußen anderes Leben gab? Nun musste sie sich eher fragen, wie sie es überleben sollte, dass da draußen jemand war …
Er riss sich aus seinen Gedanken und wiederholte seine Anfrage. Doch der Empfang blieb tot. Das konnte an der Abschirmung in der Außenhülle der OMNI liegen. Je weiter er sich ins Innere der Station zurückgezogen hatte, desto schlechter war der Kontakt geworden.
Wenn er nur gewusst hätte, ob sich Bundajars Team inzwischen an Bord befand! Irgendwie hätte er sich zu ihm durchschlagen können! Doch selbst wenn, dann mochte sein Freund selbst in Kämpfe verwickelt worden sein.
Wie viele von diesen Kreaturen mochten sich an Bord befinden? Genügend, um dafür zu sorgen, dass niemand lebend entkam, befürchtete er. Nur wie waren sie überhaupt an Bord der OMNI gekommen? Hätte die EVO ein anderes Schiff bemerkt, hätte das Kommando die Rettungsmission umgehend abgebrochen.
Dafür war es nun zu spät …
Reed knurrte und schob den Bügel seines Mikrofons wieder nach oben.
Er musste einen anderen Weg finden! Irgendwo musste es ein Terminal geben, auf dem er sich die Decks der Raumstation anzeigen lassen konnte. Doch wenn diese Wesen auch nur im Ansatz über eine bewusste Intelligenz verfügten – und davon ging er aus, nachdem er sie kämpfen gesehen hatte –, dann würden sie genau an solchen Stellen auf jeden lauern, der so unvorsichtig war, sich ihnen zu nähern.
Oder so verzweifelt.
Reed stieß gepresst den Atem aus und rang die aufkeimende Furcht in sich nieder. Vor menschlichen Gegnern hätte keine Angst gehabt. Da hätte er auf sein Training und seine Erfahrung vertraut.
Doch diese Wesen, sie schienen nur von einem Impuls erfüllt zu sein – zu töten, was immer ihnen begegnete. Und … es zu verwandeln. Er schauderte bei der Erinnerung daran, was mit Richard Kinley geschehen war. Er war tot gewesen! Und er war wieder aufgestanden, als sei er eine leblose Marionette, die von anderen gesteuert wurde!
Bleibt fort …
War das noch Kinley selbst gewesen, der diese Worte ausgestoßen hatte? Oder hatte sie derjenige ausgesprochen, der den Körper kontrollierte?
Reed fluchte unverhohlen und wischte den Gedanken beiseite.
Konzentrier dich darauf, hier lebend rauszukommen!, wies er sich zurecht. Für Horrorgeschichten hatte er nachher noch Zeit.
In angespannter Haltung spähte er um die Ecke der Nische – und sah nur die beiden glühenden Augen im Dämmerlicht vor sich.
Erkennen und handeln war eines.
Er hatte überhaupt nicht mehr auf das Geräusch geachtet, und diese Unachtsamkeit hatte die Bestie gnadenlos ausgenutzt. Reed stieß sich mit einem Fuß von der Wand ab und sprang mit einem Satz aus der Nische. Etwas zischte an seinem Kopf vorbei. Nur undeutlich erkannte er die gebogenen Konturen, die ihn an die Klingen von Sicheln erinnerten. Sie verfehlten ihn und drangen in die Wand ein, genau an der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte.
Das Metall kreischte und wurde wie Papier aufgerissen. Doch die Kreatur schien ihren eigenen Schwung falsch eingeschätzt zu haben, denn als sie ihre Klaue befreien wollte, stockte sie in der Bewegung, als hätte sich die Klingen zu tief in die Wand gebohrt.
Reed hatte es nur aus dem Augenwinkel verfolgt, während er sich über den Boden abrollte und mit der Mark-III im Anschlag in die Hocke ging.
Er gönnte sich ein kurzes Grinsen, als er sah, wie das Wesen immer wütender zu werden schien und sich mit ruckartigen Bewegungen befreien wollte. Die stabile Wand, die selbst einem Hüllenbruch standhalten konnte, bog sich unter der Belastung in ihrer Verankerung.
Reed verlor keine Sekunde und zog den Abzug seiner Waffe durch. Das auf Dauerfeuer gestellte Magazin spuckte seine tödliche Ladung innerhalb weniger Sekunden aus.
Keine fünf Meter trennten ihm von der Kreatur. Aus dieser Entfernung konnte er nicht verfehlen. Die radioaktiv gehärteten Projektile schlugen in dem Oberkörper des echsengleichen Wesens ein. Es wurde von der Wucht zurückgeworfen und hing halb mit der verkeilten Kralle in der Wand. Die Einschläge hatten ihre Wirkung sichtlich nicht verfehlt, doch Michael Reed beschloss, nicht den Fehler zu begehen und dieses Wesen mit menschlichen Maßstäben zu messen.
Er löste das letzte Magazin aus seinem Gürtel, während das leergeschossene durch einen Knopfdruck zu Boden fiel und klirrend aufschlug. Selbst durch den isolierten Handschuh konnte er das überhitzte Metall spüren. Ihm blieb allerdings keine Zeit, um vorschriftsgerecht darauf zu warten, bis es sich abgekühlt hatte, sondern er ließ das volle Magazin einschnappen und zog den Bügel zum Entsichern durch. Sein Daumen stellte den Hebel auf Einzelfeuer.
Reed hielt den Atem an und zielte über die Kimme hinweg auf die Augen der Bestie, die sich angeschlagen herumwarf. Er dachte gar nicht daran, überhastet zu reagieren und seine Munition zu vergeuden.
Das Wesen schien genau zu spüren, dass ihm von dem überlegten Vorgehen seines Gegners eine tödliche Gefahr drohte. Die Kiefer seines lang gezogenen Mauls schnappten auf und zu. Mit einem metallisch anmutenden Klirren prallten die Reihen scharf geschliffener Zähne aufeinander.
Reed drückte ab.
Die linke Klaue des Wesens schnitt durch die Luft. Doch sie zielte nicht auf den Mann, der zu weit entfernt kauerte, sondern durchtrennte mit einer schnellen Bewegung den Unterarm, der halb in der Mauer steckte.
In diesem Moment schlug die Kugel in den Schädel ein und warf ihn herum. Eine zähe Flüssigkeit spritzte durch die Luft. Ein schrilles Kreischen löste sich aus der Kehle der Kreatur, deren durchtrennter rechter Arm heftig blutete.
Doch für sie schien nur eines zu zählen – sie hatte sich befreit. Ihre Kiefer schnappten erneut nach ihrem Gegner. Torkelnd wollte sie aufstehen. Die Wunden setzten ihr sichtlich zu. Reed hatte nicht vor, die zunehmende Schwäche des Wesens ungenutzt zu lassen. Erneut zielt er auf die Augen.
Noch bevor er abdrücken konnte, hatte sich das Wesen mit einer Schnelligkeit, mit der er nicht gerechnet hätte, auf die gekrümmten Hinterbeine gestemmt und vom Boden abgedrückt.
Der gedrungene Körper flog durch die Luft.
Reed sah die Hauer der geöffneten Kiefer schwach im Licht aufleuchten, registrierte, wie der linke Arm noch vorne ging – und drückte wiederholt ab, die glühenden Augen unmittelbar vor sich. Die Kugeln schlugen direkt in das linke ein und warfen den Kopf der Bestie zurück. Der Schädel platzte an der Rückseite auf.
Ein heiseres Zischen erfüllte die Luft. Reed warf sich zurück und rollte zur Seite, um dem Aufprall des Körpers zu entgehen. Doch den nach vorne gestoßenen Klauen konnte er nicht mehr ausweichen. Sie drangen tief in seinen Körperpanzer ein und sprengten die Rückenplatte auseinander.
Augenblicke lang versagte seine Atmung und er schnappte nach Luft. Der glühend heiße Schmerz war fast übermächtig. Er keuchte und kämpfte gegen die Ohnmacht, die ihn zu übermannen drohte. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab, als könne er sich gegen die Schmerzen stemmen, die über ihn hinwegbrandeten.
Alles in ihm schrie danach, sich nicht zu wehren. Sondern sich einfach fallen zu lassen. Seine Hände gaben nach. Er stützte sich auf den Unterarmen ab und presste die Stirn gegen den kühlen Boden.
Wenn das Wesen jetzt zuschlug, war er zu keiner Gegenwehr mehr fähig.
Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass er nur sein eigenes Keuchen hörte.
Noch immer bekam er kaum Luft. Er spürte, wie das Blut über seinen Rücken lief. Die Wunden brannten, als seien die Klauen in Säure getaucht gewesen.
Michael Reed fand erst jetzt die Kraft, aufzusehen. Er wandte den Kopf nach links und sah den regungslos am Boden liegenden Körper der Bestie. Minutenlang behielt er sie im Blick, achtete auf jede kleinste Bewegung, bis er sicher sein konnte, dass sie tot war.
Mit einer fahrigen Bewegung zog er das Bügelmikrofon vor seinen Mund.
»Kommando? First Sergeant Michael Reed. Bin schwer verwundet. Benötige medizinische Unterstützung. Bitte bestätigen, ob Sie meine Koordinaten orten können!«, stieß er gepresst hervor.
Wie befürchtet, meldete sich die EVO nicht. Er schnaufte und kämpfte gegen die Verzweiflung an. Er war auf sich alleine gestellt. Doch in seinem Zustand war er jedem weiteren Angriff hilflos ausgeliefert.
Nach wie vor beseelte ihn dieser eine Gedanke – er musste ein Terminal finden!
Ob es eine Waffenkammer gab, war ihm nun gleich. Er konnte sich ohnehin nicht mehr zur Wehr setzen. Er wollte die Krankenstation finden, um wenigstens die Blutung zu stillen, wie auch immer er die Wunden an seinem Rücken behandeln sollte.
Es fiel ihm so unfassbar schwer, seine Beine anzuziehen und die Arme durchzudrücken. Bei jeder Bewegung fühlte sich sein Körper an, als würde er von Messern zerteilt werden. Am liebsten hätte er laut aufgeschrieben, doch mehr als ein Keuchen löste sich nicht von seinen Lippen.
Vielleicht war es das, was ihn vor einer Entdeckung durch weitere Bestien rettete. Vielleicht aber lauerten sie in einem Schatten und warteten ab, um zu sehen, ob er noch eine Gefahr darstellte.
Reed verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen. Im Augenblick hätte ihn selbst ein Schmetterling mit einem Flügelschlag zu Boden schicken können.
Endlich stand er und lehnte sich gegen eine Wand. Der Schweiß lief ihm in Bächen über Gesicht und Hals. Er konnte nur in kurzen Atemstößen Luft holen. Mühevoll hob er den Kopf an und richtete den Blick nach vorne. Erst jetzt stellte er fest, dass die leergeschossene Mark-III am Boden lag. Er hatte keine Sekunde lang daran gedacht, sie wieder in den Holster zu stecken.
Reed schloss ergeben die Augen und presste die Lippen aufeinander. Würde er sich nach der Waffe bücken, würde er sich nicht mehr erheben können. Dazu hatte er nicht mehr die Kraft. Schwerfällig setzte er ein Bein vors andere und schob sich die Wand entlang.

 

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