„Tropfen gefrorenen Lichts“ – Leseprobe

(aus „Tropfen gefrorenen Lichts“)

 

Es hatte damit angefangen, dass er ihn nicht gewinnen ließ …

Johannes Vanden stützte sich auf seine Ellenbogen und spuckte den Schnee aus, der zwischen seine Zähne geraten war. Hinter sich hörte er das heisere Rattern der Eisenbahnräder, die sich wieder in Bewegung setzten. Dumpf klatschte neben ihm etwas in den hellen Schnee. Im dämmrigen Abendlicht erkannte er es als seinen ledernen Koffer.

Nur schwerfällig kam er wieder hoch. Es fiel ihm schwer, dieses Gefühl der Benommenheit abzuschütteln und die Augen offenzuhalten. Er drehte sich zu dem kantigen dunklen Schatten des Waggons hin und wollte etwas sagen. Nur um zu merken, dass außer einem heiseren Krächzen kein Ton seine Kehle verließ.

Im Türrahmen des Waggons der ersten Klasse sah er die Schemen zweier Menschen, undeutlich und im Dunkel kaum auszumachen. Einer von ihnen brüllte ihn an, während ein glühender Lichtpunkt in seinem Gesicht hektisch auf- und abtanzte. Von der Zigarre löste sich ein dünner Rauchfaden, der sich schnell im kalten Nachthimmel verlor.

Stendahl Jorgensen; einer der Männer, mit denen er eine Runde gepokert hatte. Einer der Mitbesitzer der Eisenbahnlinie, genauso fett wie reich. Und nicht weniger ungeschickt im Pokern. Es hatte Vanden einfach zu sehr gereizt, ihn auflaufen zu lassen.

Nur hatte er nicht mit der cholerischen Art seines Spielpartners gerechnet – und damit, dass die anderen Herren am Tisch leider auf dessen Seite standen. Er hatte etwas zu häufig hintereinander gewonnen. Bewahre, nicht dass er falsch gespielt hätte – zumindest nicht bewusst … –, doch davon war dieser Jorgensen nicht zu überzeugen gewesen.

Er hatte seinem Frust Luft gemacht, den Zug anhalten lassen und Vanden einfach hinausgeworfen. Natürlich nicht, ohne ihm vorher das gesamte gewonnene Geld samt seiner eigenen Ersparnisse aus den Taschen zu reißen. Wir haben Dezember, Mann!, dachte Vanden und schüttelte den Kopf, von dem ein paar Schneereste zu Boden rieselten. Nein, er wusste, dass eine Beschwerde bei der Eisenbahngesellschaft wenig Aussicht auf Erfolg hatte …

Mehrere kleine, bunte Schatten tanzten durch die kühle Luft und klatschten leise um ihn herum in den hellen Schnee.

»Vergiss deine Karten nicht, Saukerl!«, schrie ihm Jorgensen nach und spuckte seinen Zigarrenstummel nach ihm. Zischend erlosch dieser im Schnee und hinterließ ein kleines, dunkles Loch in dem weißen Laken, das den Boden bedeckte.

Der Zug setzte sich schwerfällig in Bewegung. Wie auf ein verabredetes Zeichen hin schlossen sich die Türen und die Fenster, an denen die Neugierigen erstaunt gehangen hatten, um etwas von dieser unerwarteten Abwechslung von der eintönigen Zugfahrt mitzubekommen. Es hatte sich keiner gefunden, der Vanden zur Seite gestanden hätte. Die meisten Menschen gingen wohl davon aus, dass jemand, der auf offener Strecke aus dem Zug geschmissen wird, dies auch verdient haben musste.

Johannes Vanden stand verloren neben dem Gleis und sah dem schmalen Gefährt nach, das jetzt schnell im tiefblauen Dämmerlicht verschwand. Die Rauchfahne der Lokomotive löste sich wie ein zerfasertes Leichentuch am Himmel auf, und mit ihm ebbten alle Geräusche ab, die diese unwirtliche Ebene gerade noch erfüllt hatten.

Ruhig, dachte Vanden, wie ruhig es jetzt ist. Eigentlich hatte er vorgehabt, Hammerfest noch vor dem Jahreswechsel 1922/23 zu erreichen. Er wollte dort als Entertainer auf einem Luxusliner anheuern, um die zahlungskräftigen Gäste bei ihrer Fahrt durchs Eismeer über die Feiertage mit leichter Musik zu unterhalten und an den Trinkgeldern gut zu verdienen. Im Augenblick jedoch war er froh, wenn er überhaupt noch dort ankam. Langsam machte sich die Wut in seinem Magen breit. Keiner der Passagiere hatte einen Finger gerührt, um ihm zu helfen. Er mochte hier draußen erfrieren, und niemanden scherte es!

Missmutig zog er die feingearbeiteten Lederhandschuhe aus der Manteltasche und streifte sie über. Dann griff er nach seinem schmalen Koffer. Er überprüfte seine Kleidung, zog seine Weste zurecht und besah sich die Schuhe. Wie lange sie bei diesem Wetter hielten, mochte nur der Himmel wissen.

Er stieg über das schmale Gleis und lief auf den hart gefrorenen Schwellen entlang. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein weiterer Zug kam, war äußerst gering, und hier lag der Schnee zumindest nur Finger breit. Vanden hatte kein großes Verlangen nach einer Schneewanderung durch die hüfthohe Wehen, die sich auf den Feldern neben den Gleisen aufgetürmt hatte.

Eigentlich war es ein schöner Abend, dachte Vanden bei sich. Vor allem, wenn man ihn im Warmen verbringen konnte …

Unablässig setzte er einen Schritt vor den nächsten. Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm, dass er bereits über zwei Stunden den Gleisen folgte. Seit einer Weile schon atmete er durch den offenen Mund und hoffte, dass er nicht anfing, zu schwitzen. Der schwere Mantel hielt zwar warm, nur war Vanden nicht auf längere Fußmärsche eingestellt gewesen. Und seine Kondition hielt sich schon beim geselligen Ausritt in Grenzen …

Das dämmrige Blau des späten Nachmittags, das die gesamte Welt in ein unwirkliches Licht getaucht hatte, war längst einem gleichförmigen Grau gewichen. Auch wenn der Himmel wolkenverhangen war, reflektierte die unendliche Schneeschicht so viel Licht, dass er zumindest Schatten voneinander unterscheiden konnte.

Er hatte kein Gehöft gesehen in all der Zeit. Seine Hoffnung, noch eines vor Anbruch der Nacht zu finden, schwand von Minute zu Minute. Nicht einmal eine Scheune versteckte sich unter dem verstreut liegenden Baumgruppen, die die offenen Felder unterbrachen. Und vor ihm tat sich in einiger Entfernung der ungreifbar scheinende Schatten eines Waldes auf.

Der mochte die Kälte ein wenig abhalten, ging es ihm durch den Kopf.

Das einsame Gleis führte mitten hinein in die zunehmende, unauslotbare Dunkelheit. Rechts davon schob sich nahe des Horizonts eine schroffe Hügelkette in die Höhe. Vanden blieb stehen und betrachtete sich einen Augenblick die Linie der Hügelkämme.

Er stockte.

Doch, er hatte richtig gesehen. Über einer der Kuppen blitzte ein Licht auf. Und es wurde größer, als entferne es sich von … – ein grelles Kreischen erfüllte die Luft. Vanden hielt sich die Ohren zu und ging unwillkürlich in die Hocke. Das Licht wurde größer und größer und raste mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zu.

»Großer Gott!«, entfuhr es ihm und er warf sich auf die Gleise.

Mit einem ohrenbetäubenden Lärm pfiff das Licht über ihn hinweg und schlug in das Schwarz des nahen Waldes ein. Stämme barsten und krachten. Holzsplitter sirrten durch die Luft und prasselten neben dem Mann auf die Gleise. Dann schlug eine unglaubliche Gewalt in den Boden ein und brachte die Erde zum Explodieren. Vanden wurde kurz emporgeschleudert und landete hart auf dem Schotterbett. Er wagte es nicht, seinen Kopf auch nur ein Stück weit zu heben und presste sein Gesicht auf die kalten Steine.

Sein Herz raste. Er hielt die Arme so verkrampft über den Kopf, dass sie schon bald schmerzten. Dennoch blieb er liegen. Erst langsam merkte er, dass das tosende Geräusch in seinen Ohren sein eigenes heiseres Atmen war.

Es war still.

Vanden richtete sich vorsichtig auf und versuchte etwas zu erkennen. Die Schneise in den Bäumen war unverkennbar, trotz der Dunkelheit. Also folgte sein Blick dieser Linie. Ganz tief unten, knapp über dem Boden, erkannte er ein Leuchten zwischen den Stämmen. Zuerst dachte er, es brenne, doch die Farbe des Lichts war kalt. Es schien eher blau zu sein, und nicht rot oder orange wie das eines Feuers. Es war auch kein Prasseln zu hören oder Rauch zu sehen.

Vanden wurde misstrauisch. Gleichzeitig war seine Neugier geweckt. Er griff nach seinem Koffer und lief nun einen Takt schneller die Gleise entlang, immer darauf bedacht, sich nicht zu weit von dem Licht zu entfernen. Er hatte Glück; es blieb beständig auf einer Höhe mit der metallenen Schneise. An einem bestimmten Punkt entschied er sich dafür, einen Weg querfeldein zu wählen und tauchte in den nahezu lichtlosen Wald ein. Das Unterholz machte ihm jedoch mehr zu schaffen als erwartet. Mehrmals musste er fluchend hinnehmen, dass kleine vorstehende Äste an dem festen Stoff seines Übermantels zerrten und ihn einrissen. Nur ließ sich Vanden davon nicht abhalten. Dafür war das Licht inzwischen viel zu greifbar.

Gleich, jetzt, hinter den nächsten Bäumen …

Nein, es war kein Feuer. Es leuchtete unirdisch hell und funkelnd. Fast schien es, als durchbreche es die Struktur der Bäume und ließ sie wie Glas wirken, in denen sich der helle Schein wieder und wieder brach.

Ungläubig packte Vanden die Zweige vor sich und knickte sie zur Seite. Inmitten der Bäume tat sich eine Lichtung auf. Anders als erwartet war der Boden kaum aufgeworfen. Es gab keinen Krater, wie es bei einem Einschlag dieser Wucht zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen bedeckte ein kreisrunder Teich die künstliche Lichtung.

Teich?, musste sich Vanden selbst fragen. Das war kein Wasser, was dort zu sehen war. Es leuchtete tief aus sich heraus und waberte in schillernden Strukturen, einem flüssigen Kaleidoskop gleich. Er löste sich aus dem Schatten der Bäume und sah sich vorsichtig um. Nein, er konnte niemanden entdecken. Nicht einmal ein Tier war zu sehen. Nur dieser kleine Teich …

Er mochte gut vier Meter Durchmesser haben. Allerdings hätte er nicht sagen können, wie tief er war. Oder ob er überhaupt in die Tiefe reichte. Dafür schien er fast wie gemalt, nicht greifbar.

Vanden kniete sich am Rand der hellen Fläche nieder und blickte neugierig hinab. Doch, er konnte sein Spiegelbild erkennen. Es schien nur eher, als würde er in flüssiges Metall sehen denn in Wasser. Sein Blick ging umher. Die Bäume am Rand des Teichs – er hatte sich nun entschieden, ihn so zu nennen – waren durch die Wucht des Aufschlags völlig unbehelligt geblieben. Und das durfte eigentlich nicht sein. Schließlich hatte er sich selbst vorhin vor den Splittern schützen müssen!

Er hatte schon von Kometeneinschlägen gelesen. Sie hinterließen im Allgemeinen breite Schneisen der Verwüstung. Dieser Meteor 1908 in Russland seinerzeit – er hatte ganze Landstriche dem Erdboden gleichgemacht.

Vanden betrachtete das Baumholz, das im hellen Licht lebendiger wirkte, als er es je gesehen hatte. Jede einzelne Faser leuchtete wie von Licht erfüllt. Er glaubte fast, eine beständige Bewegung inmitten der kristallenen Schicht der Rinde zu erkennen. Ein unsinniger Gedanke, schoss es Vanden durch den Kopf. Fast machte der Baum einen glücklichen Eindruck auf ihn.

»Richtig. Und du stehst schon zu lange in der Kälte«

 

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