„Liliths Blut“ – Leseprobe

1.

 

Ihre nackten Zehen spielten mit dem Sand unter ihren Füßen. Ein kühler Wind strich um ihre Arme. Sie fröstelte nicht, sondern begrüßte ihn, denn er linderte das unstillbare Feuer in ihr für einen Augenblick.

Schritte kamen rasch näher.

Sie lächelte. Wie eilig er es doch hatte …

»Lasst mich alleine«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Ihr könnt euch euren Preis später holen.«

Ein kaum vernehmbares Krächzen ertönte zur Antwort. Mehrere schemenhafte Körper breiteten ihre Schwingen aus und erhoben sich mit kräftigen Flügelschlägen. Vor dem sternenklaren Himmel waren sie nur noch einen Moment lang zu erkennen, dann verschmolzen sie mit dem Dunkel der Nacht.

Sie trat aus dem Schatten des halb zerfallenen Stalls in das Licht der Mondsichel. Wie unbeabsichtigt streiften ihre Finger den rechten Träger ihres Leinenkleids über die Schulter. Der Stoff entblößte nun ihre rechte Brust, deren dunkle Haut im fahlen Licht samten schimmerte.

»Ich warte schon auf dich«, begrüßte sie den Mann mit einem Seufzen in der Stimme. Er verharrte nun keine drei Schritte von ihr entfernt und hatte dem Funkeln in seinen Augen nach jede ihrer Bewegungen genau verfolgt.

»Verzeih«, keuchte er. »Der Quartiermeister hat darauf bestanden, die Waffenliste durchzugehen. Ich hatte schon befürchtet, du wärst schon wieder gegangen.«

»Es ist einsam hier draußen. Jetzt, da der Krieg wütet und alle fort sind.« Sie trat nahe an ihn heran. »Und ich möchte wenigstens heute Nacht nicht alleine sein.«

Sie konnte deutlich hören, wie sein Atem bei diesen Worten noch schneller ging. Ihre schlanken Finger strichen über seine sehnigen Unterarme. Er war kaum älter als zwanzig, schätzte sie, und dennoch zeichneten bereits mehrere Narben seine Haut.

»Das musst du nicht«, stieß er aus. Seine jugendliche Ungeduld war nur allzu deutlich in seiner Stimme zu hören und entlockte ihr ein Lächeln. Er zog sie zu sich heran und schloss seine Arme um ihren Oberkörper. Viel zu hastig bedeckten seine Küsse ihren Hals und wanderten tiefer, zum Ansatz ihrer Brüste, die sich ihm verlangend entgegenreckten.

»Nicht hier draußen«, flüsterte sie ihm zu. »Lass uns in den Schutz des Stalls gehen. Ich möchte nicht, dass dich jemand entdeckt und meldet.«

Er nickte knapp und zerrte sie mit sich. Sie widersetzte sich ihm nicht. Warum sollte sie auch? Tat er doch genau das, was sie von ihm erwartete.

Deshalb hatte sie ihn sich auch ausgesucht. Einen einfachen, jungen, assyrischen Soldaten, der niedere Aufgaben verrichtete. An den niemand einen zweiten Gedanken verschwendete. Den keiner vermissen würde.

Sie liebte dieses Spiel, als Bauerstochter in den Heerlagern ein und aus zu gehen, die wenigen Waren feilzubieten, die sie bei sich führte, und dabei in einem Gespräch unter vier Augen fallen zu lassen, wie einsam sie sich des Nachts fühlte.

Er verlor keine Sekunde und presste sie gegen die Ziegelsteinmauer. Seine Hände schoben sich unter ihr dünnes Kleid und rafften es nach oben, während seine Lippen abermals ihre nackte Haut erkundeten.

Ihre Laute vermischten sich mit seinem heiseren Atmen. Wie von selbst suchten ihre Hände das Lendentuch, das um seine Hüften geschlungen war, und lösten es. Sie legte ihre Finger um den heißen Pfahl, der erregt pochte.

Er stöhnte auf und presste sie mit dem Gewicht seines Körpers noch fester gegen die Wand. Sein rechtes Knie schob sich vor und drückte ihre Beine auseinander.

Ein andermal hätte sie sich dem Augenblick vielleicht sogar hingegeben, selbst mit einem so unerfahrenen jungen Mann wie er es war. Doch sie durfte nicht mehr Zeit verlieren als nötig. Sie jagten sie, und sie wusste nicht, ob sie ihre Fährte schon aufgenommen hatten.

Jeden Einzelnen von ihnen hätte sie bezwingen können, hätten sie sich trotz ihrer Feindschaft nicht verbündet und gegen sie verschworen. Selbst Noach …

»Zu schade«, seufzte sie.

Der Assyrer schien die Worte nicht einmal gehört zu haben, denn er ließ von seinem Liebesspiel nicht ab.

Sie löste sich mit einer kraftvollen Bewegung aus seiner Umklammerung und versetzte ihm einen Schlag mit dem flachen Handrücken. Er wurde wie von der Faust eines Riesen nach hinten geschleudert und prallte gegen die gegenüberliegende Wand. Putz bröckelte ab. Ohne seinen Sturz abfangen zu können, sackte der junge Soldat zu Boden.

Noch bevor er seine Besinnung vollends wiedererlangt hatte, warf sie sich auf ihn und schloss ihre Finger um seine Handgelenke. Mit spielerischer Leichtigkeit drückte sie ihn in den Sand.

»Was machst du …?«, entfuhr es ihm mit einem schmerzerfüllten Stöhnen.

Ein heiseres Zischen löste sich von ihren Lippen. Als legten sich Wolken über ihren Körper, verlor ihre Haut mit jedem verstreichenden Augenblick an Helligkeit, bis deren Tönung eins wurde mit dem Dunkel der Nacht. Ihr tiefschwarzes Haar umtanzte ihr Gesicht wie von eigenem Leben erfüllt und zuckte schlangengleich.

Sie schenkte dem Mann unter sich ein letztes Lächeln, dann stieß ihr Kopf hinab und ihre Fänge bohrten sich tief in seinen entblößten Hals.

 

Grace Porter fuhr hoch und fluchte.

Schlaftrunken fuhr sie mit der Zungenspitze über die Innenseite ihrer Unterlippe und schmeckte Blut. Unterdrückt stöhnte sie auf. Obwohl sie sich am liebsten wieder hingelegt und weitergeschlafen hätte, wälzte sie sich aus dem Bett und fischte mit den Füßen nach ihren Hausschuhen.

Doch so sehr sie nach ihnen auch suchte, fand sie sie nicht. Grace stieß einen unwilligen Laut aus und beschloss, barfuß zum Bad zu gehen. Sie verzichtete darauf, Licht zu machen, und orientierte sich am Schein der Straßenlaternen, der durch die Fenster fiel. Grace schlurfte ins Badezimmer und stellte fest, dass sie in dem dunklen Raum kaum noch etwas erkennen konnte. Sie schaltete das Licht am Schrank über dem Waschbecken an. Es war greller, als sie es in Erinnerung hatte.

»Mum, da wird man ja echt blind!«, maulte sie und schwor sich, ihrer Mutter morgen früh zu erklären, dass man im Bad kein Flutlicht benötigte. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte.

Grace beugte sich vor und spuckte aus.

Blut spritzte ins Waschbecken.

»Du liebe Zeit!«, stieß sie aus und fragte sich, wie fest sie sich im Schlaf gebissen haben musste. Sie drehte den Wasserhahn auf und verteilte das Wasser mit ihrer rechten Hand, um die Oberfläche von den Blutspritzern zu reinigen.

Grace spuckte noch mehrmals aus. Erst nach ein paar Minuten ließ die Blutung nach. Mit der Zungenspitze tastete sie nach der Wunde und presste sie gegen die Stelle.

Die letzten Reste Blut wischte sie mit einem Papiertaschentuch fort, das sie aus einer Schachtel auf der Anrichte von ihr zupfte, und warf es kopfschüttelnd in die WC-Schüssel.

›Das hat jetzt echt sein müssen‹, dachte sie und löschte das Licht. Unschlüssig blieb sie im Flur stehen. Sie rieb sich die Augen und blickte abwechselnd zur Schlafzimmertür und zum Wohnzimmer, das im Dunkeln vor ihr lag.

Sie warf einen Blick auf die alte Standuhr, deren Uhrwerk laut tickte. Vor dem blank polierten Ziffernblatt aus Messing hoben sich die Zeiger selbst in diesem Zwielicht gut sichtbar ab.

Kurz vor halb vier Uhr morgens.

Sie hatte kaum mehr als zwei Stunden geschlafen. Auch hier, in ihrem Elternhaus, kam sie nicht zur Ruhe. Die Ereignisse in Cutler’s Rock erschienen ihr inzwischen wie ein unwirklicher Traum. Doch es war ein Traum, der sie bis jetzt nicht erwachen ließ.

Seit ihrer Rückkehr nach Boston war es ihr unmöglich gewesen, sich auf ihre Romane zu konzentrieren oder wieder in den Alltag zurückzufinden. Sie hatte in ihrer Wohnung gesessen und vor sich hingestarrt, hatte versucht, all die Eindrücke, die nicht aufgehört hatten, auf sie einzuströmen, hinter sich zu lassen.

Und ihr gingen die Worte Melachiels nicht aus dem Sinn.

Weder das, was er über Luther gesagt hatte – sie schloss die Augen und zwang sich, nicht an ihn zu denken –, doch noch viel weniger das, was er geglaubt hatte, über sie selbst zu wissen.

Liliths Blut fließe in ihren Adern.

Sie hatte nicht verstanden, wie er das meinte.

Natürlich war ihr der Name ein Begriff. Manch alte Religion verehrte Lilith als Göttin, andere sahen in ihr ein unheilvolles Geschöpf der Nacht. Sie hatte Tage damit verbracht, im Internet zu recherchieren und mehr über sie zu erfahren. Es gab Quellen, die sie als Ur-Dämonin bezeichneten. Und solche, für die sie eine Vampirin gewesen war.

Vampirin …

Aber wenn das so sein sollte, hätte sie nicht längst eine … Verwandlung durchmachen müssen? Sie schauderte bei der Vorstellung und fuhr unwillkürlich mit der Zunge über die Schneidezähne.

Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Sie war sogar bei ihrem Hausarzt gewesen und hatte sich Blut abnehmen lassen. Sollte wirklich ein Keim oder ein Erreger in ihr stecken, dann war sie nicht gewillt, so einfach dazusitzen und abzuwarten, was das Schicksal für sie bereit hielt. Mit was auch immer sie sich infiziert haben konnte, es würde Wege geben, sie zu behandeln.

Sämtliche Untersuchungen waren jedoch negativ verlaufen. Im Gegenteil, sie war nach Meinung ihres Arztes kerngesund.

Grace war sich im ersten Augenblick unschlüssig gewesen, ob sie sich über diese Mitteilung freuen sollte. Denn das ließ alles, was geschehen war, noch viel mehr wie einen bösen Traum erscheinen.

Sie wünschte sich nur, sie könnte vieles andere ebenso leicht klären.

Sie war nicht einmal mehr ans Telefon gegangen und hatte Anrufe auf dem Smartphone ignoriert. Trish schickte ihr seit gut einer Woche keine Textnachrichten mehr. Anfangs hatte Grace sie noch gelesen und bei jeder davon ein schlechtes Gewissen gehabt, sich nicht bei ihrer besten Freundin zu melden.

Doch sie hatte sich gefragt, was sie ihr hätte erzählen sollen. Wie hätte sie ihr erklären sollen, was geschehen war? Schon bei ihrer Rückfahrt war sie bei jeder gemeinsamen Rast den Fragen ihrer Freundin ausgewichen und hatte an deren Gesichtsausdruck nur allzu gut erkennen können, dass Trish ihr kein Wort glaubte.

Sie hatte in all den Tagen selbst nach einer Antwort gesucht, hatte im Internet neben den Informationen über Lilith nach den Söhnen des Mondes und den Nephilim recherchiert und war dabei alle ihr bekannten seriösen und einige obskure Quellen durchgegangen.

Doch niemand wusste etwas von den Söhnen des Mondes zu berichten. Niemand erwähnte einen … Pakt, den die Menschen in grauer Vorzeit mit Vampiren im Kampf gegen die Nephilim geschlossen hatten.

Nichts wies auf einen seit Menschengedenken wütenden Zweikampf hin, den sie am eigenen Leib erlebt hatte! Das waren schließlich keine Hirngespinste gewesen!

All die unbeantworteten Fragen hatten sie noch ratloser zurückgelassen. Und sie ärgerte diese Ohnmacht, nicht ergründen zu können, was um sie herum geschah!

In ihrer Wohnung war ihr die Decke auf den Kopf gefallen, und so hatte sie ihre Mutter angerufen und gefragt, ob sie für ein paar Tage vorbeikommen könne.

Seit dem Tod ihres Vaters lebte ihre Mutter ganz allein in dem viel zu großen Haus am Ortsrand von Indian Lake. Doch Grace war nun froh, dass ihre Mutter sich geweigert hatte, das alte, umgebaute Forsthaus aufzugeben, denn diese Abgeschiedenheit war genau das, wonach sie sich sehnte. Sie hoffte, sich in der altvertrauten Umgebung geborgen zu fühlen und endlich wieder zur Ruhe zu kommen.

Eine Ruhe, die auch in dieser Nacht in unendlich weiter Ferne zu liegen schien.

An Schlaf war im Augenblick nicht mehr denken. In ihr breitete sich eine Anspannung aus, wie in den vergangenen Wochen schon, wenn sie aus ihren wirren Träumen erwacht war.

Die Kälte der Bodenfliesen drang durch ihre Fußsohlen. Grace eilte zur Couch hinüber, griff nach einem Kissen in der Ecke, setzte sich und zog ihre Beine an. Das Kissen umschlang sie mit ihren Armen und drückte es gegen ihre Brust.

›Was war das nur für ein Traum gewesen?‹ Sie versuchte sich zu erinnern, doch die Bilder verblassten viel zu schnell vor ihrem inneren Auge.

Ein Mann – sie war mit irgendeinem Mann zusammen gewesen. Sie erinnerte sich dagegen nur allzu deutlich an die Erregung, die sie verspürt hatte, und presste unwillkürlich die Beine zusammen. Es war ein sexuelles Verlangen gewesen, eine Begierde, die ihren ganzen Körper ergriffen hatte und selbst jetzt noch in ihr nachhallte.

Doch sie hatte sich nicht nach seiner Leidenschaft verzehrt, sondern vielmehr nach seinem …

Grace kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie schluckte und schmeckte dabei nach wie vor Blut in ihrem Mund.

Wie ein …

»Nein!«, stieß sie laut aus. Ihr Körper versteifte sich.

›Denk es nicht einmal!‹, schärfte sie sich ein.

Hatte Melachiel am Ende doch recht gehabt?

Ohne den Impuls unterdrücken zu können, suchte ihre Hand nach den beiden Wundmalen an ihrem Hals. Sie ertastete die leichten Erhebungen, die nach all den Wochen noch immer nicht verheilt waren.

Grace ließ die Hand fallen, als habe sie sich verbrannt, und fühlte einen Schauer auf ihrer Haut.

Ihre Finger umschlossen die Zehen ihrer Füße, die immer klammer wurden. Jetzt im November drang die kühle Nachtluft durch jede Ritze des alten Holzhauses. Sie beugte den Oberkörper vor und drückte ihn gegen ihre angewinkelten Beine.

So sehr Grace auch hoffte, dabei ein Gefühl der Geborgenheit zu finden, konnte sie die unbarmherzige Kälte doch nicht bezwingen, die mit einem Mal ihren Körper empor wanderte, unter ihre Haut kroch und sich einer eisigen Klaue gleich um ihr Herz legte.

Bilder von ›ihm‹ zuckten durch ihr Bewusstsein. Grace presste ihre Handballen gegen die Augen, als könne sie damit verhindern, ihn ganz deutlich vor sich zu sehen.

»Nein«, kam es über ihre Lippen. Sie wollte nicht an ihn denken. Wollte sich nicht an ihn erinnern. Nicht an das, was geschehen war. An das, was sie gehört hatte.

»Ich bin niemandes Beute!«, presste sie hervor. Erst recht nicht die eines Mannes, der vorgab, sie zu lieben!

Ihre Hände wurden feucht. Sie wischte sich über die Augen.

›Du wirst doch jetzt wohl nicht wegen ihm anfangen zu weinen!‹

»Grace, Liebes?«

Im Hausflur flammte eine Stehlampe auf.

Grace drehte sich um. »Hab ich dich geweckt, Mum? Das wollte ich nicht«, begrüßte sie die Frau, die in ihrem altmodischen Morgenrock am unteren Treppenabsatz stand.

»Das ist nicht so schlimm. Ich befürchte, ich bin fremde Geräusche in der Nacht nicht mehr gewohnt«, antwortete ihre Mutter mit einem Lachen. »Geht es dir gut, Liebes?«

Grace überlegte, was sie darauf entgegnen sollte.

»Nein, nicht so wirklich«, entschied sie sich, bei der Wahrheit zu bleiben, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter sie bei solch einer Antwort wohl kaum in Ruhe lassen würde. »Aber, ehrlich, ich komme schon klar. Geh ruhig wieder ins Bett.«

Wie befürchtet, dachte ihre Mutter überhaupt nicht daran, sondern setzte sich neben sie auf die Couch. Grace rang sich ein Lächeln ab.

Annett Porter strich ihrer Tochter übers Haar.

»Man muss keine Mutter sein, um zu merken, dass dich etwas bedrückt. Du warst seit deiner Ankunft so schweigsam. Ich habe dir jedes Wort förmlich aus der Nase ziehen müssen. Ist es noch immer wegen Brian?«

Grace stutzte für einen Moment und musste auflachen.

»Nein, Mum, wirklich nicht. Ach du liebe Zeit! Nein, den vermisse ich echt nicht mehr!«

Was würde sie dafür geben, wenn die Antwort so einfach wäre …

»Dann bin ich beruhigt. Der hat sowieso nie zu dir gepasst.«

»Muuum!« Grace wand sich innerlich und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Auf solch ein Gespräch hätte sie um halb vier gut verzichten können!

Annett Porter hob abwehrend die Hände. »Ich wollte es nur noch mal gesagt haben. Ohne ihn bist du besser dran.«

Grace antwortete nichts darauf.

»Ich sehe schon«, ließ sich ihre Mutter nicht beirren. »Da ist ein Neuer, der dir Kummer bereitet.«

›Mütter!‹, fluchte Grace im Geiste. ›Schlimmer als ein Bluthund, der die Witterung aufgenommen hat.‹

»Ist es in Ordnung, wenn ich nicht darüber sprechen möchte?«, drang ihre Stimme unterdrückt durch das Kissen.

Zur Antwort legte Annett Porter den Arm um die Schultern ihrer Tochter und zog sie sanft zu sich heran. Grace ließ sich in die Umarmung sinken und atmete tief durch. Zum ersten Mal seit Tagen fiel die Anspannung von ihr ab.

»Wie wäre es, wenn du nachher ein Spaziergang an der frischen Luft machst, wir frühstücken zusammen, und wenn dir dann nach Reden zumute ist – ich bin da. Hm?« Ihre Mutter strich ihr über den Oberarm.

»Klingt gut«, antwortete Grace mit einem Lächeln. »Klingt echt gut.« Ihr Kopf lag auf der Schulter ihrer Mutter. Sie konnte deren Herzschlag deutlich hören.

Das Schlagen eines lebenden Herzens. Eines, das nicht von der Nacht erfüllt ist.

Graces Gesichtszüge verhärteten sich bei dem Gedanken. Der Moment der Ruhe war so schnell verflogen, wie er gekommen war.

»Was ist?«, fragte Annett Porter, als habe sie die Veränderung in ihrer Tochter gespürt.

Grace stand auf und verzog das Gesicht in übertriebener Mimik. »Mir ist echt kalt, merke ich gerade«, erwiderte sie und tanzte von einem Bein aufs andere. »Ich muss ins Bett, sonst frieren mir die Zehen ab.«

Ihre Mutter betrachtete sie unverwandt und nickte schließlich.

»Versuch, noch etwas Schlaf zu finden. Aber beim Frühstück bleibt es? Um acht?«

Grace setzte ihr unverfänglichstes Lächeln auf. »Acht geht klar.« Sie hauchte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Nacht! Hab dich lieb, Mum«, verabschiedete sie sich kurz angebunden und eilte zu ihrem alten Jugendzimmer. Den besorgten Blick, den ihr Annett Porter nachwarf, sah sie nicht mehr.

 

 

2.

 

Grace sog die kühle Morgenluft in vollen Zügen ein.

Unter ihren schnellen Schritten knirschte der Kies. Kleine Steinchen flogen zur Seite.

Die Sonne stand noch tief über den Hügeln am gegenüberliegenden Ufer des lang gestreckten Sees. Alleine der Hügelkamm wurde in ein wechselndes Spiel aus gelben und orangenen Farbtönen vor einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel getaucht.

Ihr schneller Atem löste sich in kleinen Wolken von ihren Lippen. Sie wusste, es war völlig unsinnig, was sie tat. Für einen Sprint war sie viel zu dick angezogen. Bereits jetzt stand ihr der Schweiß auf der Stirn.

Grace verlangsamte ihren Schritt und stieß die Luft aus.

Sie hatte kaum noch geschlafen und war stattdessen aufgestanden, um die ungestörte Ruhe des anbrechenden Morgens für einen ausgedehnten Spaziergang zu nutzen. Vom Haus ihrer Mutter bis zum See waren es nur wenige Minuten.

Sobald sie die leichten Wellenbewegungen auf der Oberfläche des Wassers erblickt hatte, hatten sich ihre Schritte wie von selbst beschleunigt. Die kühle Luft in ihren Lungen linderte ein wenig das Feuer, das in ihr brannte. Ihre Handflächen fühlten sich trotz des kühlen Winds allerdings noch immer so heiß an, als stünden sie in Flammen.

Dennoch konnte sie ein Frösteln nicht unterdrücken. Grace stellte den Kragen ihrer Wildlederjacke auf und verbarg die Hände in den Seitentaschen.

Ihr Blick wanderte zum Ostufer des Sees, das sie entlang gerannt war. Ihr Vater war häufig mit ihr hierher gekommen und hatte vergeblich versucht, ihr das Angeln beizubringen. Grace schüttelte sich noch immer bei dem Gedanken daran, die Würmer auf den Haken zu stecken, und musste bei der Erinnerung dennoch lächeln.

Sie vermisste ihn.

Mit ihrem Vater hatte sie über alles reden können, selbst über die Dinge, die sie sonst niemandem anvertraut hatte. Es war gerade erst etwas über ein Jahr her, dass ihn ein Schlaganfall ereilt hatte, mitten im Wald bei der Arbeit. Hätten die Ärzte ihn schneller gefunden und behandeln können, würde er heute vielleicht noch leben.

Ihre Mutter hatte lange gebraucht, um damit fertig zu werden. Umso mehr, weil es so bald nach Joshs Tod passiert war. Grace hatte sie damit alleingelassen, sich stattdessen in ihre Arbeit vergraben und ins Schreiben geflüchtet, um nicht mit ihren eigenen Schmerzen konfrontiert zu werden.

Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und ging mit langsamen Schritten auf das flach abfallende Ufer des Sees zu. Während ihres Sprints hatte sie an nichts denken müssen und konnte sich vollkommen den Eindrücken der Natur um sich herum hingeben. Ihr Kopf war so klar gewesen wie seit Wochen nicht mehr.

Doch nun kehrte die Unruhe mit einer Unerbittlichkeit zurück, die sie schaudern ließ. Sie blickte auf die flachen Wellen, die nur wenige Zentimeter vor ihr über die Steine schwappten, und entschied sich, nach Hause zu gehen.

Grace warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Halb acht. Himmel, sie war weit über eine Stunde unterwegs gewesen, ohne zu merken, wie die Zeit vergangen war! Die halbe Stunde reichte gerade, um zurückzukehren und sich behelfsmäßig frisch zu machen. Ihre Mutter hasste es, wenn man beim Frühstück unpünktlich war.

Ihre Nackenhaare stellten sich plötzlich auf.

Sie blickte über die Schulter und kniff die Augen zusammen. Ihr war, als wäre sie nicht allein. Graces Blick strich über die Umgebung. Sie hielt den Atem an und lauschte.

Ein Schatten zog pfeilschnell über sie hinweg, begleitet von Flügelschlägen, die die Stille beendeten. Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller.

Ein Krächzen erklang.

Grace erkannte es und schloss für einen Moment ergeben die Augen. Sie straffte ihren Körper, dann erst drehte sie sich um.

Es musste gut ein Dutzend Krähen sein, das sich im kahlen Geäst einer Birke versammelt hatte. Die Vögel blickten auf sie herab, betrachteten sie aufmerksam und rutschten auf dem Ast sichtlich nervös hin und her. Immer wieder stieß eine von ihnen einen Schrei aus und richtete danach ihre nachtschwarzen Augen auf Grace.

Als warte sie auf eine Antwort.

Grace wagte nicht, sich zu rühren, obwohl es seit den Erlebnissen in Cutler’s Rock zu keinem weiteren Zwischenfall mehr gekommen war. Sie hatte auch in Boston Krähen gesehen, doch keine von ihnen war ihr gefährlich geworden.

›Kunststück, du bist ja auch kaum noch aus dem Haus gegangen‹, wies sie sich zurecht.

Bilder zuckten durch ihren Kopf. Erinnerungen, von denen sie gehofft hatte, dass sie längst vergessen waren. Sie wich einen Schritt zurück. Ihr rechter Fuß wurde vom Wasser umspült. Grace senkte den Blick und ließ ihn über die Uferböschung des Sees wandern.

›Sie haben dich genau da, wo sie dich haben wollen‹, drängte sich ihr der Gedanke auf.

Sie ballte die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten und setzte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen seitwärts, um an den Vögeln vorbeizukommen. Keiner von ihnen löste sich aus dem Schwarm, dennoch nahm die Unruhe unter den Tieren zu. Nach wie vor hielten sie ihre dunklen Augen auf Grace gerichtet.

Grace erwiderte den Blick und behielt die Krähen argwöhnisch im Auge. Sie zwang sich dazu, sich umzudrehen und den Pfad zurück zur Hauptstraße zu gehen. Sie warf einen Blick über die Schulter und wusste nicht, ob sie beruhigt darüber sein sollte, dass die Vögel nicht mehr taten, als jedem ihrer Schritte voller Aufmerksamkeit zu folgen.

Grace hörte ein helles Lachen.

Keine fünfzig Yards vor sich erblickte sie eine Frau in ihrem Alter, die ihr aus einem Seitenweg entgegen kam. An ihrer Seite hüpfte ein Mädchen, kaum älter als sieben oder acht Jahre alt. Als sie nur noch wenige Schritte trennten, blieb die Frau stehen und sah sie nachdenklich an.

»Grace?«, fragte sie dann und lächelte.

Grace runzelte die Stirn. Sie betrachtete sich das Gesicht der Frau und warf dem Mädchen einen kurzen Blick zu.

»Es tut mir leid …«, musste sie eingestehen, obwohl es ihr bekannt vorkam.

»Heather. Heather Scott. Na, okay, jetzt Montini«, meinte die Frau und wies mit beiden Händen auf sich. »Wir waren zusammen auf der Northville High.«

»Oh«, dämmerte es Grace. »Der alte Mister Burns hat uns …«

»… jeden Morgen in seinem klapprigen VW-Bus hingefahren, richtig!«, antwortete Heather.

»Meine Güte, das ist ja …«

»… ein paar Jahre her, ja«, kam die Antwort.

Grace blickte das Mädchen an und lächelte ihm zu. »Hi, ich bin Grace. Und du bist …?«

»Ellie. Hi!«, meinte es selbstbewusst und warf seiner Mutter einen schnellen Blick zu. »Mom, darf ich zum See?«

Heather ging in die Hocke. »Okay, Kleines. Geh aber nicht zu weit weg. Und pass auf, dass du nicht ins Wasser fliegst!«

Das Mädchen schüttelte so wild den Kopf, dass ihm die Haare in die Stirn fielen, und lief mit hüpfenden Schritten zum Ufer.

»Sie sammelt seit Neuestem Kieselsteine«, erklärte Heather und erhob sich. »Besser als die Äste, die sie letztes Jahr angeschleppt hat …«

Grace sah dem Mädchen nach und musste schmunzeln. Dabei fiel ihr Blick auf die Krähen. Sie hielten sich nach wie vor im Geäst des kahlen Baumes auf, als warteten sie.

Sie riss sich von dem Anblick los und drehte sich wieder ihrer früheren Schulkameradin zu.

»Süß, die Kleine«, meinte sie.

»Wie ist es bei dir?«, fragte Heather.

Grace schüttelte den Kopf. »Kein Mann, kein Kind, kein Hund. Nicht mal eine Topfpflanze.«

»Noch auf der Suche nach dem Richtigen, wie deine Heldinnen?«

Grace sah Heather verblüfft an.

»Wie kommst du …?«

»Ich bin ein Fan von deinen Romanen«, gestand Heather und wirkte prompt ein wenig verlegen. »Zuerst dachte ich, ›okay, lies mal rein, schließlich kennst du sie‹, aber jetzt kann ich’s kaum erwarten, dass der nächste erscheint! Ich hab schon zwei andere Freundinnen damit angesteckt. Wenn die erfahren, dass ich dich hier getroffen habe …!«

Grace stutzte und lachte.

»Ich hab dich sofort erkannt. Nur die Haare sind etwas länger. Auf dem Foto auf deiner Homepage, meine ich«, fuhr Heather fort.

Grace fuhr sich unwillkürlich durchs Haar. »Ja, ich sollte langsam mal ein neues Bild reinstellen.«

»Kannst du schon sagen, wann er kommt? Der nächste Roman, meine ich?«, fragte Heather.

Grace seufzte. »Er ist eigentlich schon längst fertig. Aber die letzten Wochen über waren …«

Sie stockte mitten im Satz. Eine Ahnung beschlich sie.

Grace drehte sich um und sah zu der Birke.

Die Krähen sprangen unruhig hin und her. Mehrere von ihnen schlugen aufgeregt mit den Flügeln. Und dann löste sich die erste vom Ast – und hielt mit einem heiseren Krächzen direkt auf das Mädchen zu, das am Ufer des Sees kniete.

Innerhalb eines Herzschlags stießen sich auch die übrigen Krähen mit kräftigen Flügelschlägen ab und folgten.

»Nein …«, kam es wie ein Hauch über Graces Lippen. Sie rannte los.

Die angsterfüllten Schreie des Mädchens gellten in ihren Ohren. Grace trennten kaum mehr als zwanzig Yards von dem Kind, doch sie schienen im Augenblick wie ein unüberbrückbarer Abgrund zu sein.

Ihre Augen brannten.

Sie sah, wie sich die erste Krähe auf das Mädchen stürzte und der gebogene Schnabel vorzuckte. Das Mädchen riss verzweifelt seine kleinen Hände über den Kopf. Es strauchelte und fiel schwer auf die Knie. Zusammengekauert blieb es am Boden liegen und hatte den Attacken nichts entgegenzusetzen.

Hinter ihr schrie Heather auf.

Grace warf ihr einen schnellen Blick zu und sah, wie sie ihr folgte. Doch im selben Augenblick jagten mehrere Krähen über sie hinweg und stürzten sich auf die junge Mutter. Heather wich zurück und schlug um sich, um die Angriffe abzuwehren.

Grace blieb einen Moment lang unschlüssig stehen und rannte dann weiter, um Ellie zu beschützen.

»Verschwindet!«, rief sie und stolperte die letzten Schritte mehr als dass sie rannte. Sie und warf sich noch in der Bewegung schützend über den kleinen Körper, der nur noch ein Wimmern von sich gab.

Ihre Hände stießen vor und trafen mehrere der Krähen mitten im Flug. Ein Flügelschlag schmetterte gegen ihre Schläfe. Sterne blitzen vor Graces Augen auf.

In ihr begann ein Feuer zu lodern.

Sie verpasste einer Krähe, die ihr zu nahe kam, einen wuchtigen Schlag mit der flachen Hand. Der Vogel trudelte durch die Luft und konnte seinen Sturz nur mit Mühe abfangen.

Grace öffnete den Mund. Sie wollte ›lasst uns in Ruhe!‹ schreien, doch die Worte, die sich von ihren Lippen lösten, waren in einer rauen und kehligen Sprache, die ihr selbst vollkommen fremd war.

Übergangslos hörten die Angriffe auf.

Die Krähen drehten mitten im Flug ab. Manche von ihnen schraubten sich in die Höhe, andere ließen sich auf den Ästen der umstehenden Bäume nieder. Nur eine von ihnen setzte auf dem Kies auf. Sie machte trippelnde Schritte und hielt dabei den Kopf in einer wippenden Bewegung dicht über dem Boden, immer wieder einen kurzen, beinahe fragend klingenden Schrei ausstoßend.

Die Krähe befand sich kaum einen Yard von ihr entfernt, legte den Kopf schräg und blickte Grace an.

»Geht«, erwiderte Grace mit ruhiger Stimme.

Ihre Gedanken tasteten nach den Vögeln und flüsterten ihnen unausgesprochene Worte zu. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, streckte sie ihren rechten Arm aus, bis ihre Fingerspitzen die Krähe fast schon berührten.

Der Schnabel zuckte vor. Ein einziges Mal nur, doch dabei hackte er mit einer schnellen Bewegung, der ihr Auge kaum folgen konnte, in eine Fingerkuppe. Grace zuckte zusammen, ohne die Hand zurückzuziehen. Sie sah die kleine, blutende Wunde und verfolgte ungerührt, wie der schwarzgefiederte Vogel davon nippte.

»Kleiner Nimmersatt«, raunte sie ihm zu.

Die Krähe krächzte, riss den Kopf hoch und breitete ihre Schwingen aus. Als erlebe sie einen Traum, sah Grace ihr zu, wie sie sich mit wuchtigen Flügelschlägen in die Luft erhob und sich die übrigen Krähen ohne einen Moment des Zögerns anschlossen.

Das Schluchzen unter ihr brachte sie zur Besinnung.

Grace schloss für einen Moment die Augen, sah auf das Mädchen hinab und legte ihre Arme um den kleinen, bebenden Körper. »Sssch«, flüsterte sie ihm zu und streichelte dem Kind übers Haar. »Es ist alles in Ordnung. Sie sind wieder weg.«

»Ellie!«, hörte sie es direkt hinter sich aufgellen. Heather ließ sich neben ihr auf die Erde fallen und streckte ihre Arme aus. Grace löste das Mädchen aus ihrer Umarmung.

»Ellie, geht es dir gut?«, fragte Heather und nahm ihre Tochter schützend in den Arm. »Ich habe … meine Güte … Ich habe die Krähen in den Bäumen vorhin gar nicht bemerkt!«

Sie kämpfte mit den Tränen, als sie die Wunden auf der Haut des Mädchens entdeckte, und flüsterte beruhigende Worte.

Ihre Augen richteten sich auf Grace.

»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll! … Ich mag gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn du nicht …«, brachte sie mit tränenerstickter Stimme hervor und schüttelte heftig den Kopf. »Aber, meine Güte, du bist ja auch verletzt!«

Grace wusste nicht, ob sie bei der Bemerkung lachen oder weinen sollte. Heather war selbst durch Kratzspuren im Gesicht gezeichnet, und ihre Haare hingen wirr in die Stirn.

Sie sah an ihren Armen herab. Die lederne Jacke war an mehreren Stellen aufgerissen, und ihre Hände trugen blutige Kratzer. Ihre Augen verweilten auf der Wunde am Finger, die ihr die Krähe zugefügt hatte.

Nachdenklich verrieb sie das Blut auf ihrer Fingerkuppe mit dem Daumen. Ihr Blick ging zum Himmel, doch die Vögel waren längst verschwunden.

 

»Ach du liebe Zeit! Was ist denn mit dir passiert?«

Annett Porter stellte das Geschirr ab und eilte auf ihre Tochter zu, die gerade die Küche betreten hatte. Grace wehrte die Hand ihrer Mutter ab und wich zurück.

»Liebes, bleib stehen!«, beharrte Annett Porter. »Die Wunden müssen versorgt werden! Setz dich hin, ich hol was.«

Grace erkannte, dass es keinen Sinn hatte, ihre Mutter von ihrem Vorhaben abzuhalten, und setzte sich an den bereits gedeckten Küchentisch. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee und kross gebratenem Speck erfüllte den Raum. Grace erwachte bei diesen Eindrücken allmählich aus der Trance, in der sie sich seit dem Zwischenfall befunden hatte. Wie teilnahmslos hatte sie sich von Heather und Ellie verabschiedet und hätte nicht einmal sagen können, auf welchem Weg sie nach Hause gekommen war.

»Himmel, hast du mit einem Luchs gekämpft?«, rissen sie die Worte ihrer Mutter aus ihren Gedanken.

»Reich mir deine Hand«, hörte sie die Anweisung und folgte ihr. Ihre Mutter hielt ein Fläschchen bereit und bedeckte die gezeichneten Handflächen mit einem feinen Sprühnebel. Grace stieß einen zischenden Laut aus, als die Flüssigkeit in die Wunden eindrang.

»Krähen«, erklärte Grace. »Sie haben ein kleines Mädchen angegriffen und ich habe sie verscheucht. Erinnerst du dich noch an Heather aus meiner Schulzeit?«

»Krähen?«, echote Annett Porter. »Wie? Heather? Ja, die ist vor ein paar Jahren wieder hergezogen, mit einer kleinen Tochter …« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Herrjeh, geht’s der Kleinen gut?«

»Ja, zum Glück sind es nur ein paar Blessuren. Und der Schreck.«

»Krähen«, wiederholte ihre Mutter. »Das habe ich ja noch nie erlebt. Hat das Mädchen sie vielleicht ungewollt provoziert?«

Grace zögerte mit ihrer Antwort. »Das kann ich nicht sagen. Ich war mit Heather ins Gespräch vertieft. Wir sind erst durch Ellies Schreie aufmerksam geworden.«

Sie rang mit sich selbst, überlegte, ob sie ihrer Mutter die ganze Geschichte erzählen sollte. Doch was sollte sie ihr sagen? Was in Cutler’s Rock geschehen war? Dass es den Anschein hatte, als ob die Krähen ihr folgten? Oder dass sie mit ihnen redete, als könnten die Tiere sie verstehen?

Oder dass sie dringend in therapeutische Behandlung gehörte – was die viel wahrscheinlichere Erklärung war.

»Dein Vater wäre auf alle Fälle stolz auf dich. Und ich bin’s auch«, antwortete Annett Porter und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Fertig«, meinte sie und legte das Spray in den Erste-Hilfe-Kasten. »Lass die Wunden aber sicherheitshalber noch mal von einem Arzt untersuchen. Nicht, dass sie sich entzünden!«

»Versprochen«, antwortete Grace.

»Dann mach dich mal frisch. Frühstück ist so gut wie fertig. Tee gibt’s nicht. Du weißt, den trinke ich nur, wenn ich krank bin.«

»Kaffee geht schon in Ordnung«, sagte Grace. Sie lächelte und fühlte, wie sich ihre Anspannung löste. Der Vorfall mit den Krähen rückte mit einem Mal in weite Ferne, als sei er nicht mehr als eine Erinnerung, die bereits dabei war zu verblassen.

Grace erhob sich und nahm die Jacke von der Rückenlehne des Stuhls. Sie ging in den Flur und nahm einen Kleiderbügel von der Garderobe, als das Smartphone in der Innentasche der Jacke klingelte. Sie zog es hervor und blickte aufs Display.

Grace runzelte die Stirn. Die Nummer war ihr vollkommen unbekannt. Sie überlegte kurz, ob sie den Anruf überhaupt annehmen sollte.

»Ja?«, meldete sie sich schließlich.

»Spreche ich mit Miss Porter, Miss Grace Porter?«, erklang die Stimme eines anscheinend jungen Mannes.

»Am Apparat«, antwortete sie knapp. Sie hatte es sich angewöhnt, nicht zu redselig am Telefon zu sein. Vor allem, wenn sie den Anrufer nicht kannte.

»Miss Porter, mein Name ist Sean Sebastian. Ich bin persönlicher Assistent von Darrian Varmont.«

Grace spitzte die Lippen und musste überlegen, woher sie diesen Namen kannte.

»Mister Varmont würde sich gerne mit Ihnen treffen, Miss Porter«, fuhr die Stimme fort. »Einen Augenblick, bitte. Ich stelle Sie zu ihm durch.«

Sie starrte mit offenem Mund auf ihr Smartphone, als ihr die Artikel auf Lifestyle-Websites wieder einfielen, in denen sie den Namen schon mehrere Male gelesen hatte.

»Grace, kommst du?«, hörte sie ihre Mutter aus der Küche.

»Bin gleich da. Ich habe nur einen Anruf erhalten«, rief sie zurück.

»So früh am Morgen. Wie wichtig kann das denn sein?«

Das fragte sich Grace auch. Vor allem ärgerte sie sich, dass sie sich alleine von der Erwähnung des Namens so hatte beeindrucken lassen. »Mister … Sebastian?«, setzte sie nach. »Ich weiß Ihren Anruf zu schätzen, aber ich wollte gerade frühstücken …«

»Miss Porter?«, antwortete ihr ein Mann, dessen wohlklingende Stimme ihr selbst über das Telefon unter die Haut ging. »Darrian Varmont. Ich hatte nicht vor, Sie von Ihrem Frühstück abzuhalten. Eigentlich wollte ich Sie auch zum Dinner einladen. Passt es Ihnen morgen Abend?«

Grace lachte auf und presste nur einen Augenblick später die Lippen aufeinander. Das konnte doch unmöglich wahr sein!

»Das, ähm, kommt jetzt etwas überraschend«, stotterte sie. »Sehen Sie, ich bin gerade bei meiner Mutter zu Besuch. In Upstate New York«, fügte sie an.

Einen Moment blieb es still.

»Wenn es Ihnen an einem anderen Tag besser passt, geben Sie mir Bescheid«, antwortete Darrian Varmont. »Ich richte mich da gerne nach Ihnen.«

»Nein, nein, nein«, beeilte sich Grace zu sagen. »Ich hatte ohnehin vor, bald aufzubrechen.«

»Was? Du bist doch gerade erst angekommen!«, warf ihre Mutter ein, die das Gespräch in der Küche offenbar mitverfolgen konnte. Grace verdrehte innerlich die Augen.

»Morgen Abend passt mir gut«, sagte sie kurzentschlossen.

»Sehr schön. Ich lasse Sie abholen. Sean wird sich mit Ihnen wieder in Verbindung setzen, um alles Weitere zu besprechen.«

Grace schluckte. Geschah das gerade wirklich?

»Ähm, Mister Varmont? Warum … – warum wollen Sie mich überhaupt sehen?«, brannte ihr die Frage unter den Nägeln.

»Hat Sean das nicht gesagt?« Es wurde still in der Leitung. Grace hörte jemanden leise im Hintergrund sprechen, dann erklang wieder Darrian Varmonts Stimme. »Ich würde mich mit Ihnen gerne über Filmrechte an Ihren Romanen unterhalten. Ich hatte zuerst Ihre Agentin – Ihre frühere Agentin, meine ich – angerufen, und die war so reizend, mir Ihre Mobilfunknummer zu geben.«

Verfilmungen? Graces Herz machte einen Sprung. Das konnte er doch nicht ernst meinen?

Ohne zu wissen, was sie noch alles sagte, verabschiedete sie sich von ihm und blickte starr nach vorne. Im Augenblick war sie nicht einmal in der Lage, sich zu freuen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, ging sie in die Küche.

»Na, sag mal, was soll das denn heißen, du willst gleich wieder aufbrechen? Du bist doch gerade mal zwei Tage da. Was ist denn so wichtig?«, empfing ihre Mutter sie mit einem unüberhörbaren Tadel in der Stimme.

»Wenn ich dir das sage, glaubst du mir kein Wort«, antwortete Grace.

 

Darrian Varmont.

Achtunddreißig, ledig, unverschämt gutaussehend und ein Entrepreneur in der Medienbranche.

Grace nahm ihre Lesebrille ab und lehnte sich im Sessel zurück. Sie nippte an der Tasse Kaffee, die sie vom Frühstückstisch mitgenommen hatte, und betrachtete die Biografie auf ihrem Notebook erneut.

Niemand schien so richtig zu wissen, womit er sein Geld verdiente. Sein Name tauchte im Zusammenhang mit Musikfirmen auf. Ebenso mit einer Produktionsgesellschaft, einem internationalen Newsblog und Anteilen an Streaming-Diensten.

Sie fuhr sich durchs Haar und schüttelte den Kopf. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass er sie vorhin angerufen hatte.

Er war geheimnisvoll und einflussreich – und er interessierte sich für ihre Romane!

›Solange er kein Kontrollfreak ist oder eine schwierige Kindheit hatte‹, dachte sie bei sich.

Wenn er sie fesseln wollte, dann bitte nur durch einen großzügigen Scheck. Mit beziehungsgestörten Milliardären sollten sich ruhig andere einlassen.

›Aber, Himmel, wenn er tatsächlich einen deiner Romane verfilmen lassen will, bist du finanziell endgültig abgesichert!‹, machte sie sich bewusst. Auch wenn sich ihre Titel inzwischen ordentlich verkauften und sie davon leben konnte, hatte sie nach wie vor an allen Ecken und Enden sparen müssen. Vor allem, seitdem Brian nicht mehr da war. Ihm war es immer wichtig gewesen, durchblicken zu lassen, wie sehr sie auf sein Geld angewiesen war.

»Jetzt nicht mehr, mein Lieber!«, meinte sie und hob ihre Tasse an, als würde sie ihrem Ex-Freund zuprosten.

»Ist er das?«, fragte ihre Mutter in ihrem Rücken und beugte sich über Graces Schulter. »Oha! Ob er was dagegen hat, wenn deine Mutter zum Essen mitkommt?«

»Mum!«, stieß Grace aus. »Ich kann nicht glauben, was ich da höre!«

»Was denn?« Annett Porter zuckte mit den Schultern. »Du weißt genau, dass ich deinen Vater immer lieben werde. Aber du hast selbst gemerkt, wie einsam ich hier draußen inzwischen lebe. Du bist in Boston, Josh ist …«

Grace griff nach der Hand ihrer Mutter, die auf ihrer Schulter ruhte, und drückte sie. »Entschuldige. Ist es okay, wenn ich morgen fahre? Ich sage ihm auch ab und verlege den Termin, wenn du möchtest.«

»Aber sonst geht’s dir gut!« Ihre Mutter wuschelte ihr mit der freien Hand durch die Haare. »Du bist hergekommen, um dich abzulenken. Irgendwas bedrückt dich. Und er da«, sie deutete auf das Foto auf dem Laptop, »scheint mir genau die richtige Medizin zu sein. Und wenn es nur für ein Abendessen ist. Du packst also deine Sachen und fährst zurück. Es ist ja schon ein Zeichen, dass er auch aus Boston ist, wie es aussieht.«

Grace überhörte den letzten Satz geflissentlich. Ihre Mutter hatte noch nie an Zufälle geglaubt. Für sie war alles auf die eine oder andere Weise vorherbestimmt.

»Das ist nur ein Geschäftsessen, kein Date«, erklärte sie und warf selbst noch einmal einen Blick auf Darrian Varmont.

»Mhm …«, meinte ihre Mutter nur.

Grace lachte auf. »Abgesehen davon muss er erst mal mir gefallen. Nur weil er reich und gutaussehend ist, muss ich noch lange nicht in seine Arme sinken.«

Annett Porter seufzte. »Grace, manchmal denke ich, du solltest mehr von deinen eigenen Romanen lesen.«

 

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